Stories

Ergos, Nomos und Dynamis

von Tanja Pabelick, 21.08.2012


Wir sitzen. Und sitzen. Durchschnittlich zwölf Stunden am Tag. Dabei tun wir nicht viel. Die meiste Zeit fixieren wir immer kleiner werdende Bildschirme, bedienen immer kleiner werdende Tastenfelder. Und weil sich die Technik vom Schreibtisch löst, sitzen wir dabei eben nicht nur auf Bürodrehstühlen, sondern auf Bänken, Sofas oder im Zug. Gleich geblieben ist das Resultat: Rückenschmerzen bis in den Maus-, respektive Wischerarm. Ergonomische Stühle und Werkzeuge sollen uns helfen, können aber durch den Verlust der halbwegs einheitlichen Schreibtischsituationen nicht auf alle denkbaren Belastungen eingehen. Die Strategie der Hersteller: Sie verabschieden sich von starren Gerüsten und bieten uns dynamische Stühle, die geradezu zum Turnen einladen. Aber: Was ist eigentlich ein ergonomisches Möbel? Und: Wie gesund können Möbel überhaupt sein?

 
 
Es gibt Begriffe, die haben sich durch inflationäre Verwendung abgenutzt. „Design“ ist heute alles, selbst Nägel und Haare. „Nachhaltigkeit“ pappt als Label mittlerweile auf jedem Joghurtbecher. Hersteller und Werbung nutzen die magische Wirkung schöner Worte für sich und beten sie als Verkaufsargument herunter, bis nur noch eine leere Worthülse bleibt. Schöne Musik im Nebel. So ist das auch mit der Ergonomie. Wir kennen ergonomische Rasierapparate, Fahrradgriffe, Zahnbürsten oder Kochtöpfe: Wenn der Mensch sich in irgendeiner Form betätigt, ist die Ergonomie gleich zur Stelle. Nur wenige Konsumenten hinterfragen die Etiketten oder wollen detailliert wissen, was den Griff ergonomisch macht, wer diese Ergonomie bewertet und was das ergonomische Objekt für uns tut. Dabei würde uns das nicht nur bei der Wahl der richtigen Stühle und Arbeitsgeräte helfen, sondern uns schnell auf die eigene ergonomische Verantwortung stoßen. Und die führt zu Fragen: Bewege ich mich? Und wenn ja: Genug? Wer sich mit der eigenen Arbeitsergonomie auseinandersetzt, wird neben seinen Möbeln auch die eigenen Gewohnheiten in Frage stellen müssen. Wagen wir uns also in den Nebel der Sitzergonomie.
 
Ego und Ergonomie
 
Arbeit (Ergos) und Regeln (Nomos), das sind die Bestandteile des Kunstwortes. Die Arbeitswissenschaft soll das Förmchen für die Werkzeuge sein, die als Erweiterung unseres Körpers das tägliche Tun erleichtern. Dabei ist die Ergonomie eine junge Disziplin, die durch gesellschaftliche Veränderungen ständigen Paradigmenwechseln unterworfen ist. Entstanden im 19.Jahrhundert reagierte sie auf die Mißstände der Industrialisierung. Als die Fließbänder die Menschen zu einseitigen Tätigkeiten zwangen, wurde es plötzlich interessant, wo bei den Maschinen die Knöpfe sitzen und wie Arbeitswege aussehen. Dann trat die Bildschirmarbeit ihren Siegeszug an: Als die Menschen vor Schreibtischen klemmten und die Bewegung auf der Strecke blieb, passten sich Stühle, Tische und Tastaturen auf die menschlichen Maße an. Zu diesem Zeitpunkt entstand wohl auch das erste Verständnisproblem. Denn auch wenn die Möbel die Arbeit erleichterten, indem sie massiven Fehlhaltungen vorbeugten, konnten sie die Menschen nicht ausreichend vom Verharren in starren Positionen abhalten.  
 
Die Folgen kennen wir heute, die richtige (Teil-)Lösung allerdings auch. Die heißt Abwechslung, Bewegung und bewusste Körperkontrolle. Und trotzdem gibt es bis heute eine verquere Intrpretation von Ergonomie, zu dem auch die falsche Kommunikation mancher Werbestrategen ihren Beitrag leistet: Wie Wasser zu Medizin stilisiert wird, so wird heute das Möbel zur Körperprothese. Ich sitze zwar nicht richtig, aber der Stuhl wird’s schon richten. Was natürlich falsch ist: Wer still arbeitet, muss sich dabei trotzdem bewegen – und die bewusste Entscheidung zur Bewegung treffen. Das ist die ergonomische Eigenleistung: Aufstehen um Kaffee zu holen, den Kollegen zum Gespräch besuchen, statt den Hörer abzuheben und vielleicht sogar Entspannungsübungen in den Tag einbinden. Wenn der Stuhl Bewegungen am Platz mitmacht und den Körper in Konzentrationsphasen an den richtigen Stellen stützt – dann ist das die ergonomische Leistung des Möbels. Und für diese ergonomische Leistung braucht es die richtigen ergonomischen Werkzeuge, Stühle, die uns zum Wippen, Wackeln und Drehen einladen und damit für Ent- statt Verspannung sorgen. Dabei zeigen sich im Design verschiedene funktionale Lösungen, die sich in drei bewährte Strategien unterteilen lassen.
 
Strategie 1: Positionswechsel
 
Ein geradezu klassischer „Beweggrund“ ist der Positionswechsel. Der dänische Hersteller Hag lancierte den von Peter Opsvik gestalteten Stuhl Capisco schon vor dreißig Jahren, mit dem Capisco Puls wurde dann ein modernisierter Nachfolger entwickelt. Bei beiden Modellen stützt die schmale Lehne den Rücken zusätzlich seitlich über zwei Flügel. Dadurch gibt es kein konsequent definiertes Vorne und Hinten, dafür aber die Möglichkeit seitlich oder rittlings auf der sattelförmigen Fläche zu sitzen. Die Idee, Sättel in angepasster Form aus dem Sport in Büro und Alltag zu übertragen findet sich aber nicht nur bei Hag. Auch andere Hersteller, wie Alias zitieren den Reitersitz. Die einfache These dahinter: Ein Reiter hält es lange aus auf dem Pferderücken, die Form des Sattels kann wohl nicht so verkehrt sein. Aber genau wie das Pferd muss auch der Stuhl den Sitzenden in Bewegung halten.
 
Strategie 2: Steh-Sitzen
 
Schon 1957 trafen sich ein Sattel und ein Büro. Damals ärgerte sich ein italienischer Designer über seine Stühle. Er telefonierte viel und spazierte währenddessen durch die Räume. Für kurze Notizen und Skizzen aber musste er sich aber auf die Standard-Sitzhöhe niederlassen, die zwischen 43 und 48 Zentimetern liegt. Er nahm einen ledernen Fahrradsitz und schraubte ihn auf eine Halbkugel, die den Hocker wie ein Stehaufmännchen gleichzeitig stabilisierte und in Bewegung hielt. Der große Achille Castiglioni hatte mit „Sella“ ein Möbel zur kürzeren Verweildauer entworfen, heute eine Ikone der Steh-Sitze. Und nicht der letzte. Der Steh-Sitz ist heute in vielen Büros zu finden, etwa der von Burkardt Vogtherr für Girsberger entworfene Sway. Tatsächlich ist das Steh-Sitzen eine Haltung, die kurzzeitig ergonomisch empfehlenswerter ist, als sich in Stühle sinken zu lassen, weil Rücken- und Beinmuskulatur dabei beansprucht werden.
 
Strategie 3: Bewegungssitzen
 
Ohne Bewegung geht in der Ergonomie also nichts. Und Bewegung funktioniert auf dem Stuhl – oder mit dem Stuhl. Letztere Taktik verfolgt der Möbelhersteller Wilkhahn. Seine Arbeitsstühle erlauben das „Bewegungssitzen“. 2009 stellte das Unternehmen ON vor, der mit seiner dreidimensionalen Achse jede Bewegung mit geradezu akrobatischer Gewandtheit mitmacht. Mit der Markteinführung war für Wilkhahn die ergonomische Auseinandersetzung noch nicht abgeschlossen: Man gab den ON an die Sporthochschule in Köln, ließ ihn auf seinen gesundheitlichen Zweckmäßigkeit testen und sandte außerdem weitere Stühle zu Ergonomen nach Spanien, die ihn testweise „besaßen“ – und ihm ein ausgezeichnetes Zeugnis ausstellten. Die Erkenntnis nach zwölf Wochen Studie: Bewegungssitzen steigert nicht nur das gesundheitliche Wohlbefinden, sondern auch die Konzentration und damit die Leistungsfähigkeit. Damit rechnen sich Stühle wie ON auch für die Firmen. Und Ergonomie wird zu einem Argument mit wirtschaftlicher Relevanz.
 
Weg vom Korsett!
 
Leider wird die einfache Ergonomie-Formel aus „Unterstützung + Flexibilität = gesundes Sitzen“ nicht immer und nicht von allen so vorbildlich gelöst. Ergonomie hat als Begriff den Ruf funktionaler Bequemlichkeit und liegt in einer Image-Schublade mit DIN-Vorschriften und Medizintechnik. Aus dieser Wahrnehmung heraus wurden in den letzten Jahren auch viele Möbel und Produkte auf den Markt geworfen, die versuchen jede nur denkbare Fehlhaltung zu korrigieren. Korsettartige Stühle, die Dutzende von Hebeln, Stützen und dynamische Lehnen haben, Computermäuse, die ohne weiteres ein Mitglied der Sternenflotte sein könnten und Tastaturen mit integrierten Handballen-Kissen. Eine Art „Colanisierung“ der Arbeitsmittel: Sie scheinen funktional, versagen dann aber wie die mutmaßlich hyper-aerodynamischen Entwürfe eines Luigi Colani im Windkanal. Andere wiederum nehmen die Bewegung zu wörtlich. So zogen in den 1990ern Millionen von Sitzbällen in die Haushalte ein – und landeten bald wieder luftleer in den Kellern, weil die Menschen sich vor lauter Hopsen und Schaukeln kaum noch auf die Arbeit konzentrieren konnten.
 
Die Ergonomie muss umdenken. Für sie wird es Zeit, sich ganz undeutsch von allzu strengen Normen zu lösen. Auf den Grad winkelgenaue Sitzhaltungen lassen sich nicht mehr mit unserem Alltag vereinbaren, solange der nicht nur an einem Ort, an einem Gerät und an einem Tisch stattfindet. Und egal wo wir uns niederlassen, ob kurz an einem Sway oder lang auf einem ON, ist es wichtig den Körper nicht regungslos zu parken. Deswegen müssen auch wir umdenken: Denn die Verantwortung für ausreichend Bewegung trägt jeder selbst. Wir raten: Jetzt mal Kaffee holen.
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