Fehlende Leuchttürme – Ambiente 2012
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Die gute Nachricht zuerst: In den Hallen der designaffinen Hersteller brummte es. Die schlechte Nachricht gleich hinterher: Es gab nur wenig Überraschendes zu sehen. Gestern hat in Frankfurt am Main die weltweit größte Konsumgütermesse ambiente nach fünf hektischen Tagen ihre Pforten geschlossen. Insgesamt schauten sich mit 140.000 Personen etwas weniger Fachbesucher als im letzten Jahr die Neuheiten und Trends in den drei Bereichen Dining, Living und Giving an. Die voll ausgebuchte Messe verzeichnete auf einer Bruttofläche von 330.000 Quadratmetern auf 27 Hallenebenen 4.543 Aussteller – rund 100 mehr als 2011.
Doch weg von den schnöden Zahlen, hin zu den schönen Dingen. Keine Frage, der Bereich Dining – die weltgrößte Veranstaltung für den gedeckten Tisch, die Küche und den Hausrat – und insbesondere die Halle 4 waren Treffpunkt für den Designliebhaber. Fast alle bedeutenden Hersteller von Tableware-Produkten aus den Bereichen Glas, Porzellan und Edelstahl stellten hier ihre Neuheiten, Variationen von bereits Vorhandenem, jedoch auch viel Altbekanntes vor. Auf Schritt und Tritt begegneten einem klangvolle Namen wie Reichenbach, Fürstenberg, Orrefors, Fissler, Kitchen Aid, Bodum, Pott oder Arzberg. Vermisst hingegen wurden Theresienthal, KPM, Nymphenburg, Georg Jensen und Hering Berlin.
Big Player und ihre Kleinigkeiten
Mit den weitaus größten Messeständen warteten erneut Rosenthal, Villeroy & Boch, Alessi sowie Zwiesel Kristallglas/ Jenaer Glas auf. Bei letzt genanntem Hersteller wurden die kulinarischen Köstlichkeiten am Messestand nicht nur effektvoll in den eigenen Produkten serviert, hier begeisterte Charles Schumann mit selbst kreierten Drinks in der eigenen Glas-Kollektion, und es gab noch mehr Schönes zu sehen. Zu den fragilen Neuheiten aus Glas zählen das Tee-Set aus der Serie hot’n cool, ein Dipschalen-Set mit praktischem Ausguss sowie ein rauchgraues Teelicht.
Ein paar Schritte entfernt zeigte Rosenthal das von Tapio Wirkkala in den siebziger Jahren entworfene und aus Anlass der World Design Capital Helsinki 2012 neu aufgelegte Porzellanservice Century mit abgerundeten Formen. Einen Großteil des Messestands jedoch belegte die Inszenierung des neuen Services von Metz & Kindler. Nendoo entwickelt sich in die Höhe und weckt insbesondere bei den Salz- und Pfefferstreuern sowie dem Eierbecher Assoziationen an aus dem Boden schießende Pilze. Aber auch die Teller mit einer asymmetrischen Fahne in mattem Biscuit-Porzellan sowie die kleinen, formschönen Wasserbecher aus Glas gefielen. Das Überzeugende an Nendoo ist jedoch seine Vielseitigkeit: So wird eine Blumenschale mit dem passenden Deckel zur Suppenterrine und eine schmale Vase mit dem Einstecker aus Edelstahl zum Kerzenhalter – das spart Ressourcen, Platz und Geld. Apropos Ressourcen: Thomas, die auf ein jüngeres Publikum zielende Schwestermarke von Rosenthal, wagt sich auf ein neues Terrain und hat mit Quadrondo Boon Schalen in verschiedenen Größen auf den Markt gebracht, die aus biologisch abbaubaren Materialien wie Bambusfaser und Maisstärke hergestellt werden und in ihrer Form und Farbigkeit vielseitig einsetzbar sind.
Wer lockt wie?
Trotz dieser Highlights waren die Inszenierungen der Messestände in diesem Jahr enttäuschend. Oft schienen die „Inseln“ mit Empfangstresen, Lounges und anderen Sitzgelegenheiten für Kunden und Besucher größer als die Präsentationsflächen der Produkte zu sein. Am Stand von Wedgwood beispielsweise war nichts zu sehen von der lustvollen Präsentation der Porzellanstücke im letzten Jahr, stattdessen herrschte hier triste britische Noblesse. Positiv hingegen fielen Rosenthal und Thomas auf – einschließlich der wunderbaren Blumen-Dekoration, farbenfrohen Objekte und feschen Strickleuchten. Auch auf Iittala konnte man sich erneut verlassen. Der finnische Hersteller hatte auf seinem Stand einzelne Wohnräume gestaltet, die jeweils mit einem gemütlichen Spitzdach versehen waren. Erkannt hatte die Messe Frankfurt diesen gestalterischen Kniff bereits auf der Tendence 2009 mit einer Inszenierung des Designerpaars Doshi Levien – die sich mit verändertem Fokus übrigens im Januar 2012 auf der Kölner Möbelmesse imm cologne mit dem Projekt Das Haus derselben Designer wiederholte. Auch Hersteller wie IKEA und nun auch Iittala haben erkannt, dass sich in einer komplett eingerichteten Umgebung, in einem wohnähnlichen Umfeld die Produkte atmosphärischer inszenieren und letztendlich auch besser verkaufen lassen. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass beispielsweise bei Iittala nur wenig Neues zu sehen war, was jedoch aufgrund der hohen Entwicklungskosten neuer Produkte gerade bei kleineren Herstellern vielleicht auch zu viel verlangt ist. Eine Ausnahme bei den Finnen war die neu aufgelegte Glasserie des australischen Designers Marc Newson sowie die stapelbaren Stielgläser Lempi von Matti Klenell.
Von Blumen, Kunststoffschaltern und Architektenstücken
Einer der 332 auf der ambiente vertretenen italienischen Hersteller und traditionell mit einem großen Stand präsent, war Alessi. Mit dem Projekt (Un-)Forbidden City wagen die Italiener den Spagat zwischen Architektur und Design. In Zusammenarbeit mit dem Beijing Industrial Design Center hat das Unternehmen acht chinesische Architekten beauftragt, sich mit einer Neuinterpretation des Tabletts zu beschäftigen. Herausgekommen ist allerlei – und darüber wird sich kaum jemand wundern – Skulpturales, wobei insbesondere das zusammenrollbare Tablett Jane von Liu Jiakun (Jiakun Architects) überzeugte. Ebenso wie die Pfeffermühle Tonga von Richard Sapper sowie das simple Bone-China-Service All Time samt farbigen Besteck und schlichten Gläsern, das sich Guido Venturini ausgedacht hat. Gar nicht simpel, dafür spielerisch zeigte sich I love animals von Pier Paolo Pitacco. Die erste Leuchtenserie des italienischen Herstellers macht neben der Rattan-Leuchte Amanita der Campana-Brüder mit einem aus Drahtgestell geformten „Spatzen“, der mit einem elastischen Stoff bezogen ist, auf sich aufmerksam. Sie ist durchaus hübsch anzusehen, auch wenn das ein oder andere Detail noch verbesserungswürdig ist, betrachtet man den allzu billigen Bedienungsschalter aus weißem Kunststoff.
Unzählige Kreationen aus Porzellan gab es bei Villeroy & Boch zu sehen. „Es läuft super“, so die PR-Managerin Simone Struve über den ersten Tag auf der ambiente. Und das, obwohl es beim deutschen Porzellanhersteller gar keine formalen Neuheiten, sondern ausschließlich neue Dekore zu sehen gab. Bei Villeroy & Boch geht es um Farbe, um neue Dekore – seit jeher die Kernkompetenzen des Unternehmens. Und dabei beweist man durchaus Mut, wie das Modell Anmut Bloom beweist. Die alte Form ist hier mit einem fast grellen Blumenmuster bestückt und kann gut kombiniert werden mit My Colour – das sind sieben neue Farben mit Platinrand-Veredlung. Zu diesem Farbtrend passt auch, dass sich Stefanie Herings Kreation Farmhouse Touch aus dem letzten Jahr im Blue Flower-Dekor erstaunlicherweise besser verkauft als die rein weiße Version. Villeroy & Boch hat zudem das Interieurdesign als neues Betätigungsfeld für sich entdeckt. Nicht nur gab es eine handgefertigte Vasenkollektion mit leuchtendem Überfang-Glas zu sehen, man präsentierte unter dem Namen Fusion Good auch Vasen, Kerzenständer und Dosen. Entworfen vom Berliner Büro Designschneider, gefallen die Stücke durch das Zusammenspiel von Metall und Porzellan. Designschneider war auch am Stand von JIA mit dem Tee-Set Mandarin vertreten. Der Hersteller aus Hongkong präsentiert sich mit einer Palette von asiatisch inspirierten Dingen in schlichter Form, meist in Schwarz oder Weiß gehalten.
Während JIA den Trend zu schlichter Form und zurückhaltender Farbigkeit verkörpert, spielte sich anderswo die Farbe in den Vordergrund, so beispielsweise bei Le Creuset. Beim französischen Hersteller stach insbesondere ein Prototyp ins Auge: Junior ist ein Set speziell für Kinder, das Silikonwerkzeuge, Eierbecher und kleine Auflaufformen umfasst – selbstverständlich in Blau und Rosa gehalten. Bei den Skandinaviern hingegen geht es farblich seit jeher zurückhaltender zu: Während RIG-TIG by Stelton gedämpfte Blau- und Grautöne liebt, hat man sich bei Menu überraschenderweise für einen kräftigen Farbklecks entschieden: Die Gewürzmühlen Bottle Grinder aus dem letzten Jahr gibt es nun auch in Lemon und Grün – „speziell für den deutschen Markt“, so Designchef Jakob Munk.
Wo praktisch auch schön ist
Dass Praktisches durchaus mit Schönheit in Einklang gebracht werden kann, beweist der spanische Hersteller Lékué, der mit seinem Eiswürfelbehälter Ice Cube auch auf der von Designer Sebastian Bergne kuratierten Sonderschau Solutions vertreten war. Mit der neuen Ice Box kann man nicht nur manuell ungewöhnlich geformte Eiswürfel herstellen, das Silikon-Gefäß dient gleichzeitig auch als Deckel einer doppelwandigen Kunststoff-Box, in der bis zu 132 Eiswürfel verstaut werden können. Auch das im letzten August auf der dänischen Messe Formland lancierte Label RIG-TIG by Stelton geht ähnliche Wege: Mit praktischen, multifunktionalen und recht günstigen Küchenhelfern soll eine neue Käuferschicht erschlossen werden. Auf der ambiente präsentierte das Label vier aktuelle Produkte: einen Dressing Shaker von HombäckNordentoft, eine Salatschleuder des Designers Jens Frager, die genau in eine bereits im Sortiment vorhandene Rührschüssel passt, dazu passende Deckel sowie eine vom Berliner Designduo Formfjord entworfenen Flaschenhalter in Türkis.
Auch der britische Hersteller Joseph Joseph überrascht immer wieder durch multifunktionale und platzsparende Produkte. Dieses Jahr kommt Twist in die Küche – ein Rührbesen, der ruckzuck von einer Ballonform zum flachen Schneebesen gedreht werden kann. Oder aber das Küchen-Set Nest 9 Plus, das verschiedene Rührschüsseln, ein Feinsieb, Messlöffel und einen Durchschlag – insgesamt neun Teile – platzsparend ineinander steckt. Und wer hat sich nicht schon einmal ein Utensil für die Spüle gewünscht, das Ablage- und Stellflächen sowohl für Spülmittel, Bürste, Lappen und Schwamm gleichzeitig bietet? Mit Caddy ist solch ein praktisches Ding nun verfügbar, einschließlich Abtropf-Reservoir.
Warum sich Nespresso warm anziehen muss
Und was kommt nach dem Abwasch? Richtig, eine Tasse Kaffee. Dass der Trend hingeht zum guten alten Filterkaffee, war auf der ambiente nicht zu übersehen. Gut, der Melitta-Kaffeefilter aus Porzellan tut es durchaus noch, aber es gibt auch Neues zu berichten von der Filter-Front. Darunter so Fragwürdiges wie Unplugged von Koziol. Äußerlich der Form einer Kaffeemaschine ähnelnd, handelt es sich jedoch um einen simplen Kaffeefilter. Braucht man nicht, möchte man sagen und eilt schnellen Schritts zu Kahla. Für den Thüringer Porzellanherstellers Kahla kreierte Designerin Barbara Schmidt in Zusammenarbeit mit dem Kaffee-Sommelier Michael Gliss die Kollektion Café Sommelier. Und dazu gehört ein formschöner Porzellanfilter samt passender Kanne.
Der Knall vor dem Schluss
Und die gestalterischen Leuchttürme der Messe? Nun, da musste man schon ein wenig suchen. Doch schließlich war doch etwas zu finden. Fast unauffällig hatte der niederländische, 1653 gegründete Porzellanhersteller Royal Delft seine fragilen Schönheiten präsentiert. Doch beim Vorbeilaufen stockte einem der Atem: Da standen auf einfachen Tischen wunderbare Einzelteile aus weißem Porzellan, kombiniert mit dem altehrwürdigen blauen Dekor. Das neue Label des Unternehmens nennt sich Blue D1653 und kombiniert die grandiose Tradition mit neuem niederländischem Design. Das nächste Mal bitte mehr davon!
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