Formsache: Gepflegt Durchdrehen
Die Deutschen tun sich mit Alessi ja bisweilen ein bisschen schwer, besonders die Menschen unter 50. Eine Kolumne von Max Scharnigg
Was man mal machen kann: die Alessi-Firmenzentrale besuchen. Nicht nur, weil sie am Ortasee im Piemont liegt und man dort hervorragende Haselnüsse bekommt. Auch weil es irgendwie rührend ist, was bei Alessi immer noch passiert. Große Laser schneiden aus Stahlplatten filigrane Christbäume für das Weihnachtsgeschäft. Knorrige Fabrikarbeiter löten Tüllen an Wasserkessel, die sich irgendein Designer vor 25 Jahren ausgedacht hat und im Outletshop warten gleich vier reizende Damen auf eine Ansage des Kunden, ob er die Caffettiera von Richard Sapper in erster oder zweiter Qualität haben möchte, dann sprinten sie ins Lager und machen dabei „Allora!“ und andere schöne Geräusche.
Auf der Toilette bei Alessi im zweiten Stock sieht es aus wie auf allen italienischen Toiletten mittleren Baujahrs: Ein Riss geht durchs Mauerwerk, der Wasserhahn tröpfelt, die Fliesen haben eine Patina, wie nur Fliesen auf stark frequentierten Toiletten sie erreichen können. Aber rechts neben der Schüssel steht knallgrün und lustig eine Design-Klobürste, so unpassend wie ein Springbrunnen in der Wüste. Angesichts dieser Klobürste habe ich das Prinzip Alessi erst vollkommen verstanden, es war eine Erleuchtung, ach was, die reinste Epiphanie. „I found love in a hopeless place!“ Denn hätte da jetzt nur eine langweilige deutsche „form follows function“–bürste gestanden, rutschfester Griff und Bürstenkopf in optimierter Passform, wäre die Trostlosigkeit vollkommen gewesen, das Örtchen ganz ohne Hoffnung. So aber, mit dem albernen Alessi-Kaktusgriff in Grün und einem Behälter wie ein Blumentopf, war die Botschaft eine andere: Die Hässlichkeit des Ortes verkam zur Karikatur, alles war nicht so ernst, das Ding genügte als innenarchitektonisches Augenzwinkern. Danach sah ich das ausgebreitete Sortiment dort in Crusinallo jedenfalls mit anderen Augen. Viele der Sachen waren Ausdruck bürgerlichen Ungehorsams, eine Satire auf den Ernst der Gestaltungswelt. Die Deutschen tun sich mit Alessi ja bisweilen ein bisschen schwer, besonders die Menschen unter 50.
All die figurativen Flaschenöffner und grinsenden Tischaufsätze, diese dekorative Wucht und Farben, die bei Alessi ganz selbstverständlich neben puristischem Jasper-Morrison-Sachen stehen, das hat man ja oft nicht verstanden. Aber dafür braucht man eben eine gewisse Reife oder noch besser: eine gewachsene ästhetische Frustrationstoleranz. Der große Alberto Alessi sagte später an diesem Tag beim Essen, während er formvollendet Grissini-Stäbchen in sich verschwinden ließ: „Sein Leben lang nur streng funktionales Design zu machen, ist doch wahnsinnig langweilig.“ So ungeheuer das klingt, wenn man in Rams-Land aufgewachsen ist, es ist irgendwie die reinste Wahrheit. Der menschliche Geist hat mehr Stimulation verdient als steriles Funktionsdesign. Der kann das schon verkraften, wenn es hier und da ein bisschen in der Optik kitzelt. Das Ornament mag zuckrig, fettig und ballaststoffreich sein, aber genau deshalb schmeckt es manchmal so gut. Gerade weil man so geradlinig und schnörkelfrei erzogen wurde, muss man sich später die heimliche Freude an Fransen, Löckchen und ein bisschen Pomp erarbeiten, man muss das zulassen können. Immer nur puristisch kann jeder, daneben ein bisschen gepflegt durchdrehen, das ist die eigentliche Kür! Es muss ja nicht unbedingt eine giftgrüne Klobürste sein. Wie wäre es mit einem Nussknacker in Form eines lustigen Muskelprotzes? Zusammen mit den sehr funktionalen Haselnüssen aus dem Piemont ist das eine wirklich kultivierte Kombination.
Max Scharnigg
arbeitet als Redakteur für Stil und Lebensart bei der Süddeutschen Zeitung. Sein letztes Buch beschäftigte sich mit dem Thema gute Manieren im Netz.