Stories

Formsache: Gepflegt Durchdrehen

Die Deutschen tun sich mit Alessi ja bisweilen ein bisschen schwer, besonders die Menschen unter 50. Eine Kolumne von Max Scharnigg

von Max Scharnigg, 13.11.2018

Was man mal machen kann: die Alessi-Firmenzentrale besuchen. Nicht nur, weil sie am Ortasee im Piemont liegt und man dort hervorragende Haselnüsse bekommt. Auch weil es irgendwie rührend ist, was bei Alessi immer noch passiert. Große Laser schneiden aus Stahlplatten filigrane Christbäume für das Weihnachtsgeschäft. Knorrige Fabrikarbeiter löten Tüllen an Wasserkessel, die sich irgendein Designer vor 25 Jahren ausgedacht hat und im Outletshop warten gleich vier reizende Damen auf eine Ansage des Kunden, ob er die Caffettiera von Richard Sapper in erster oder zweiter Qualität haben möchte, dann sprinten sie ins Lager und machen dabei „Allora!“ und andere schöne Geräusche.

Auf der Toilette bei Alessi im zweiten Stock sieht es aus wie auf allen italienischen Toiletten mittleren Baujahrs: Ein Riss geht durchs Mauerwerk, der Wasserhahn tröpfelt, die Fliesen haben eine Patina, wie nur Fliesen auf stark frequentierten Toiletten sie erreichen können. Aber rechts neben der Schüssel steht knallgrün und lustig eine Design-Klobürste, so unpassend wie ein Springbrunnen in der Wüste. Angesichts dieser Klobürste habe ich das Prinzip Alessi erst vollkommen verstanden, es war eine Erleuchtung, ach was, die reinste Epiphanie. „I found love in a hopeless place!“ Denn hätte da jetzt nur eine langweilige deutsche „form follows function“–bürste gestanden, rutschfester Griff und Bürstenkopf in optimierter Passform, wäre die Trostlosigkeit vollkommen gewesen, das Örtchen ganz ohne Hoffnung. So aber, mit dem albernen Alessi-Kaktusgriff in Grün und einem Behälter wie ein Blumentopf, war die Botschaft eine andere: Die Hässlichkeit des Ortes verkam zur Karikatur, alles war nicht so ernst, das Ding genügte als innenarchitektonisches Augenzwinkern.  Danach sah ich das ausgebreitete Sortiment dort in Crusinallo jedenfalls mit anderen Augen. Viele der Sachen waren Ausdruck bürgerlichen Ungehorsams, eine Satire auf den Ernst der Gestaltungswelt. Die Deutschen tun sich mit Alessi ja bisweilen ein bisschen schwer, besonders die Menschen unter 50.

All die figurativen Flaschenöffner und grinsenden Tischaufsätze, diese dekorative Wucht und Farben, die bei Alessi ganz selbstverständlich neben puristischem Jasper-Morrison-Sachen stehen, das hat man ja oft nicht verstanden. Aber dafür braucht man eben eine gewisse Reife oder noch besser: eine gewachsene ästhetische Frustrationstoleranz. Der große Alberto Alessi sagte später an diesem Tag beim Essen, während er formvollendet Grissini-Stäbchen in sich verschwinden ließ: „Sein Leben lang nur streng funktionales Design zu machen, ist doch wahnsinnig langweilig.“ So ungeheuer das klingt, wenn man in Rams-Land aufgewachsen ist, es ist irgendwie die reinste Wahrheit. Der menschliche Geist hat mehr Stimulation verdient als steriles Funktionsdesign. Der kann das schon verkraften, wenn es hier und da ein bisschen in der Optik kitzelt. Das Ornament mag zuckrig, fettig und ballaststoffreich sein, aber genau deshalb schmeckt es manchmal so gut. Gerade weil man so geradlinig und schnörkelfrei erzogen wurde, muss man sich später die heimliche Freude an Fransen, Löckchen und ein bisschen Pomp erarbeiten, man muss das zulassen können. Immer nur puristisch kann jeder, daneben ein bisschen gepflegt durchdrehen, das ist die eigentliche Kür! Es muss ja nicht unbedingt eine giftgrüne Klobürste sein. Wie wäre es mit einem Nussknacker in Form eines lustigen Muskelprotzes? Zusammen mit den sehr funktionalen Haselnüssen aus dem Piemont ist das eine wirklich kultivierte Kombination.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Max Scharnigg

arbeitet als Redakteur für Stil und Lebensart bei der Süddeutschen Zeitung. Sein letztes Buch beschäftigte sich mit dem Thema gute Manieren im Netz.

Mehr Stories

Best-of Raumausstattung 2024

Neue Tapeten, Farben & Textilien

Neue Tapeten, Farben & Textilien

Formal-Informal

Ligne Roset editiert Michel Ducaroys Polsterprogramm Kashima

Ligne Roset editiert Michel Ducaroys Polsterprogramm Kashima

CO2-Neutral und plastikfrei

Karcher Design setzt Nachhaltigkeit ganzheitlich um

Karcher Design setzt Nachhaltigkeit ganzheitlich um

Perfekte Imperfektion

Sebastian Herkner taucht die Bauhaus-Klassiker von Thonet in neue Farben

Sebastian Herkner taucht die Bauhaus-Klassiker von Thonet in neue Farben

Der Ikea-Effekt

Wenn aus Arbeit Liebe wird

Wenn aus Arbeit Liebe wird

Best-of Outdoor 2024

Möbelneuheiten für das Wohnen unter freiem Himmel

Möbelneuheiten für das Wohnen unter freiem Himmel

Ein Herz für Vintage

Wie der Hersteller COR gebrauchte Möbel neu editiert

Wie der Hersteller COR gebrauchte Möbel neu editiert

Kuratierter Kraftakt

Die Neuheiten der Stockholmer Möbelmesse 2024

Die Neuheiten der Stockholmer Möbelmesse 2024

Die Macht der Visualisierung

Wie Raumplanungen digital zum Leben erweckt werden

Wie Raumplanungen digital zum Leben erweckt werden

Best-of Tableware 2024

Neuheiten für die Küche und den gedeckten Tisch

Neuheiten für die Küche und den gedeckten Tisch

Ein Kessel Buntes in Paris

Die Neuheiten von Maison & Objet und Déco Off 2024

Die Neuheiten von Maison & Objet und Déco Off 2024

Skandinavische Designtradition

Das schwedische Unternehmen Kinnarps im Porträt

Das schwedische Unternehmen Kinnarps im Porträt

Dimensionen der Weichheit

Neuheiten von der imm cologne 2024

Neuheiten von der imm cologne 2024

Bühne für den Boden

Vorschau auf die Domotex 2024

Vorschau auf die Domotex 2024

Was darf ich für Dich tun

KI – Künstliche Intelligenz oder Kreative Invasion?

KI – Künstliche Intelligenz oder Kreative Invasion?

Wrestling & Fabelwesen

Neues von der Design Miami und Alcova Miami

Neues von der Design Miami und Alcova Miami

Alles auf einmal

Die Bundeskunsthalle in Bonn feiert die Postmoderne

Die Bundeskunsthalle in Bonn feiert die Postmoderne

Breite Eleganz

Fischgrätplanken von PROJECT FLOORS in neuen Formaten

Fischgrätplanken von PROJECT FLOORS in neuen Formaten

Alles auf eine Bank

Die Möbelkollektion Semiton von García Cumini für Arper

Die Möbelkollektion Semiton von García Cumini für Arper

Homeoffice im Wandel

Gestaltende über Lösungen für das Arbeiten zu Hause – Teil 2

Gestaltende über Lösungen für das Arbeiten zu Hause – Teil 2

Blick ins Homeoffice

Gestaltende über Lösungen für das Arbeiten zu Hause – Teil 1

Gestaltende über Lösungen für das Arbeiten zu Hause – Teil 1

Ruf der Falte

Paravent-Ausstellung in der Fondazione Prada Mailand 

Paravent-Ausstellung in der Fondazione Prada Mailand 

Best-of Fliesen 2023

Dekorative Neuheiten für Wand und Boden

Dekorative Neuheiten für Wand und Boden

Sinn für Leichtigkeit

Alberto-Meda-Ausstellung in der Mailänder Triennale

Alberto-Meda-Ausstellung in der Mailänder Triennale

Bunte Becken

Die Colour Edition von DuPont Corian

Die Colour Edition von DuPont Corian

Wohnliche Exzentrik

Fabian Freytag gewinnt Best of Interior Award 2023

Fabian Freytag gewinnt Best of Interior Award 2023

Ton, Steine, Onyx, Wachs

Die Neuheiten der Fliesenmesse Cersaie 2023 in Bologna

Die Neuheiten der Fliesenmesse Cersaie 2023 in Bologna

Wohnliche Technik

Smart-Home-Lösungen von Gira zwischen Hightech und Hygge

Smart-Home-Lösungen von Gira zwischen Hightech und Hygge

Leben im Ommm

Die Verbeigung des Wohnraums ist Farbtrend und Gefühls-Seismograph

Die Verbeigung des Wohnraums ist Farbtrend und Gefühls-Seismograph

50 Jahre Togo

Ligne Roset feiert das Kultsofa der siebziger Jahre

Ligne Roset feiert das Kultsofa der siebziger Jahre