Stories

Fuori Salone 2011: Wenn Zugpferde scheuen

von Tanja Pabelick, 20.04.2011


Mailand ist im April ein Kaleidoskop, das einen farbenfrohen, gleichsam chaotischen und irgendwie auch vertrauten Blick auf die Welt des Designs zulässt. Jedes Jahr aufs Neue werden die Bausteine in den Schaufenstern ordentlich geschüttelt und neu abgemischt, und damit der Blick auf die Produktwelt neu arrangiert. Die Zutaten bleiben gleich: Materialien, Stoffe und Farben. Designer, renommiert – oder zumindest jung und ambitioniert. Unzählige Showrooms, alte Fabrikhallen, Cafés und Designstudios, alles taugt in den sechs Tagen des Ausnahmezustands zur Designbühne. Das, was auf der in diesem Jahr fünf Jahrzehnte alten Messe ausgestellt wird, nämlich vor allem Möbel, hat in der Zwischenzeit die ganze Stadt „angesteckt“. Lambrate, Tortona, Brera – am Ende gibt es kaum einen Straßenzug, in dem nicht eine Fahne zur Kennzeichnung der Ausstellungsorte zappelt. Doch nicht nur das: Vom großen Hype, der alle mitnimmt, wollen auch diejenigen gern ein Scheibchen erwischen, die mit dem eigentlichen Kernthema nicht viel am Hut haben.



Es ist ein Wahnsinn. Die Hotels sind ausgebucht, mancher Besucher fährt für sein Bett raus bis nach Como. Die Taxifahrer können sich nach der einen Woche wohl einen Karibik-Urlaub gönnen. Und auch die Aussteller des Salone del Mobile und der Satellitenveranstaltungen, vor allem die junge Gestalterriege, haben viel investiert, um überhaupt hier sein zu können. Das betrifft nicht nur die im Schnitt recht hohen Kosten für die Miete vor Ort. Eine junge Amerikanerin erzählt, wie sie ihre Kollektion, bestehend aus Regalen und ein paar Leuchten, bis nach Italien gebracht hat: in sechs Koffern und mit der Hilfe eines guten Freundes, der ihr zuliebe auf eine abwechslungsreiche Garderobe verzichtet hat. Andere haben in Kleinbussen in drei Tagen die Alpen überquert, um dann mit Zelt und Gaskocher auf einem Campingplatz abzusteigen. Die Erwartungen sind hoch. Nicht zuletzt, weil eigentlich jeder, der nur irgendwie irgendwas mit Design zu tun hat, in diesen Tagen hier ist. Prototypisches neben den Neuheiten der großen Firmen – die einen wollen gesehen werden, andere wollen sehen. Das Publikum absolviert dabei ein Programm, das sich vielleicht am besten mit „Design Crawling“ beschreiben lässt, als Vokabel dem britischen „Pub Crawling“ entlehnt, bei dem ein feierfreudiges Publikum mit einer Stadtkarte ausgerüstet für ein Bier pro Stop durch die Straßen zieht. In Mailand geht es natürlich stilvoller zu – die grundlegenden Komponenten bleiben: eine Faltkarte, kurze Aufenthaltsdauer an den Zielpunkten und die völlige Erschöpfung am Ende des Abends oder der Nacht.

Tortona-Tortur?

Drei Haupt-Design-Distrikte hatte Mailands Stadtgebiet in diesem Jahr zu bieten. Der Klassiker unter den Nebenschauplätzen ist die Zona Tortona, die allerdings schon in den letzten Jahren von den Medien als längst passé gebrandmarkt wurde. Einst bejubelte Subkultur, widerfuhr ihr, was so vielen In-Vierteln und Szene-Ecken passiert. Erst verabschiedete sich die hippe Jugend, die das Industriegebiet einst für sich entdeckt hatte, dann auch die großen Hersteller. Immer rummeliger war es in dem kleinen Viertel hinter dem Bahnhof Porta Genova in den letzten Jahren geworden. Mit Design hatte das nur noch wenig zu tun. Die meisten der Besucher kamen dann wohl auch nur noch fürs Festivalflair – das allerdings mehr von einer Kirmes, denn von einem kulturellen Event hatte. Mit dem Schwinden der Zugpferde, die vor dem Trubel scheuten, ist dann auch in diesem Jahr die Kirmes etwas weniger grell ausgefallen. Weniger renommierte Aussteller, weniger Partys und Cocktails, weniger Flyer-verteilende Werbemädchen. Als Spielplatz der Marketing-Strategen hat die Zona Tortona an Zugkraft verloren. Das hat dem Viertel in diesen sechs Tagen nicht schlecht getan – aber auch nicht geholfen. Beim Schlendern blieb zwar mehr Platz, aber auch mehr Raum für Langeweile. Das sonst prall gefüllte Superstudio war leerer als gewohnt und führte eine Auswahl zusammen, auf die am besten das Adjektiv eigenartig passt: zum einen die prächtige Lichtinstallation von Foscarini, daneben junge Designer wie Daniel Rohr, der sich von einem Microchip zu einem vierundzwanzig-beinigen (Macrochip-)Tisch inspirieren ließ, zwiespältige Legoleuchten von Kreaton und im angebundenen Nhow-Hotel dann noch ein als Walfisch getarntes Klavier namens Whaletone.

Autos, Computer und Kunst

Im Hof hingegen pendelten vier Autos wie Ufos unter der italienischen Sonne, von einem Kran empor gehoben. Es handelte sich um die neuesten Modelle der Firma Mini, die wie andere Unternehmen aus der Automobilbranche – beispielsweise Audi, Hyundai oder Citroën – das Designfestival beim Schopfe packen, um sich in attraktiver Gesellschaft zu präsentieren. Mit Möbeln hat man zwar nichts zu tun, schmiegt sich aber gern an und bemüht sich mit Installationen und Sponsoring darum, das Publikum von der Designnähe und Formschönheit der eigenen Marke zu überzeugen. Dafür ist Mailand wie gemacht, denn hier sind eben nicht nur das Fachpublikum, sondern vor allem auch der designaffine Endverbraucher und die internationale Presse unterwegs. Diese Art der Imagepflege gelang den Firmen in der Zona Tortona besonders gut. Die Installationen von Firmen wie Toshiba, die als Beitrag zur Euroluce in einer Ruine vor einem malerischen Hinterhof ein LED-Wasser-Spiel installierten, oder die von Samsung gesponserte Ausstellung „Lead me to your door“ des koreanischen Künstlerduos Mioon, waren mehr als sehenswert.

Inszenierung des Alltäglichen


Wen hingegen mehr interessierte, was die jungen Designstudios oder die Hochschulen beschäftigt, wer also Experimentelleres finden wollte, war gut beraten, sich zur Ventura Lambrate zu begeben. Dieser Veranstaltungsort war im letzten Jahr von den beiden Niederländerinnen Margriet Vollenberg and Margo Konings aus der Taufe gehoben worden. Hier fanden in großen Hallen Sammelausstellungen einzelner Länder, Städte und Hochschulen statt, die thematisch sortierte Querschnitte zeigten. Berlin war mit der Ausstellung „Poetry Happens“ vertreten, in der Werner Aisslinger einen Monoblock präsentierte, der als erster seiner Art komplett aus Hanffasern gefertigt ist, ettlabenn experimentierte mit Pappmaché und entwickelte Gefäße aus dem leichten Material. Tatsächlich stand das Thema der Wiederverwertung von Materialien (mal wieder) im Fokus, daneben spannte sich die Poesie des Alltäglichen, die Inszenierung von Traditionellem und die Zusammenarbeit mit Kunsthandwerkern wie ein roter Faden durch die Hallen, der sich mal mehr, mal weniger knäuelte. Eine Absolventin der Kunsthochschule Kassel, Miriam Aust, hatte ein Bücherregal aus einfachen grauen MDF-Platten entworfen, in das die Bücher so eingesteckt werden können, dass man statt der Rücken die viel dekorativeren Fronten sieht. Und Austs ehemalige Kommilitonin Hanna Krüger kooperierte mit der Firma Glasturm, um gläserne Leuchtenschirme zu entwickeln, die als transparenter Blob auf einem hölzernen Dreibein thronen.

Neue Lüster und Möbel im Ledergewand

Damit war Ventura Lambrate inhaltlich und auch von der prozesshaften Präsentation her wohl am weitesten von dem entfernt, was sich im etablierten Brera rund um die Prachtstraße Via Montenapoleone tat, in der sich die Luxusmarken Shop an Shop reihen. Mit ihrer ersten Möbelkollektion debütierte hier die Firma Hermès – allerdings nicht neben Tüchern und Koffern im eigenen Showroom, sondern in einem von Shigeru Ban gestalteten Pavillon aus Papprollen. Die in edles braunes Leder gewandeten Stühle, Tische und Beisteller wurden von Enzo Mari, Antonio Citterio und RDAI Studio entworfen. Und auch der Kristalllüster-Produzent Baccarat lancierte eine Kollektion, die auf neue Pfade führen soll: darunter eine kleine, charmante Tischleuchte von Jaime Hayon und eine raumgreifende Installation von Philippe Starck, die Regenschirme über die Lüster-Tropfen hielt. Mehr eine Zukunftsprognose als eine reale Kollektion präsentierte die niederländische Firma droog mit Design for Download etwas außerhalb der Ballungsgebiete des Festivals. Die Idee: Es wird kein fertiges Möbel gekauft, sondern nur ein digitaler Bausatz, der sich vom Nutzer selbst auf der Webseite zusammenstellen lässt. Frei positionierbare Komponenten, verschiedene Größen und Materialien nach Wahl. Produziert werden sollen die Möbel dann im Selbstbau oder vom lokalen Schreiner – bezahlt wird für die Vorlage. Der Zuschnitt kann dank der sofort verfügbaren digitalen Daten über eine CNC-Fräse erfolgen. Keine neue Idee, aber eine, an die sich bisher noch niemand in dieser Konsequenz herangewagt hat. Und eine, mit denen sich die Designer in den kommenden Jahren wohl immer wieder konfrontiert sehen werden.

Was aber bleibt von Mailand nach sechs Tagen, in denen wohl kaum jemand alles gesehen haben kann? Neben aller Begeisterung für die Ideenflut ist es gerade die Vielfältigkeit, die ihre Spuren hinterlässt. Hunderte von Stühlen, Tischen und Leuchten hat der Besucher am Ende gesehen und wird deshalb das Gefühl nicht los, dass es im Design doch alles schon irgendwo gibt. Aber das ist im nächsten Jahr, wenn das Kaleidoskop wieder kräftig geschüttelt wird, schon wieder vergessen.

Alle Beiträge zum Salone del Mobile 2011 im Designlines-Special.


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