Greifen und Begreifen
1 / 3

Die Kooperation zwischen dem Türklinkenhersteller FSB und dem Gestalter Otl Aicher gilt als Musterfall für eine designorientierte Unternehmenskultur. Dabei stand die Beziehung anfangs noch unter keinem guten Stern, als Aicher seinem zukünftigen Partner erst einmal die Türe wies.
Es war an einem grauen Novembertag im Jahr 1984, als Jürgen W. Braun, der Geschäftführer von FSB, zum ersten Mal nach Rotis im Allgäu fuhr, um sich dort mit Otl Aicher zu treffen. Dieser hatte bereits die neuen Firmenauftritte von Lufthansa und Erco übernommen und galt als einer der Besten seines Fachs. Was Braun von ihm wollte, war vor allem die Gestaltung einer neuen Firmenbroschüre, die das gesamte Programm des Klinkenherstellers darstellen sollte. Doch was daraufhin folgte, ließ den gestandenen Unternehmer wie einen kleinen Schuljungen dastehen: „Junger Mann, ich bin doch kein Firmenanstreicher! Jetzt fahren Sie erst einmal nach Hause und denken über Ihr Tun nach. Wenn Ihnen dann dazu etwas eingefallen ist, dürfen Sie sich wieder bei mir melden.“ Schwer vorstellbar, dass ein Designer heutzutage seinem Auftraggeber derart forsche Worte an den Kopf werfen würde. Doch Otl Aicher war eben auch ein anderes Kaliber und folgte seinen eigenen Regeln. Er sah sich nicht als Dienstleister, sondern suchte den gemeinsamen Dialog, von dem beide Seiten lernen können.
Braun fuhr enttäuscht und verwirrt nach Hause. Sollte er sich als 50jähriger vorwerfen lassen, nicht zu wissen, was sein Unternehmen, das mittlerweile über 100 Jahre alt war, eigentlich tue? Er rekapitulierte auf der Heimfahrt die Firmengeschichte, von den Anfängen im Jahre 1881 bis zu den Entwicklungen der letzten Jahre. Bei einem Zwischenstopp in Düsseldorf betrat er schließlich einen Buchladen, um ein Geschenk für einen befreundeten Architekten zu kaufen. Als er in der Warteschlange an der Kasse stand, fiel sein Blick auf einen Tisch mit Sonderangeboten, auf dem ein Buch über Handlesekunst auslag. Das war es! Sofort wurde ihm klar, was Aicher gemeint hatte. Womit sich seine Firma beschäftigte, waren nicht nur Griffe sondern das Greifen an sich. Dinge für die Hand. Daraufhin kaufte er gleich einen ganzen Berg an Büchern über Produkte, die man in die Hand nehmen kann und vertiefte sich in die Welt des Greifens. Ein paar Wochen später sprach er erneut bei Aicher vor und präsentierte in Bildern und Texten die Ergebnisse seiner Recherche. Aicher reagierte positiv: „Mal sehen, was wir daraus machen können.“
Was in den Jahren danach folgte, war eine harte aber zugleich ergebnisreiche Lehrzeit für Jürgen W. Braun und seine Mannschaft. Aicher stellte sich als ein strenger Lehrmeister heraus, der für seine Schüler immer neue Hausaufgaben parat hielt. Der Weg führte von einem neuen Katalog zu einem neuen Logo und schließlich einer gesamten neuen Corporate Identity für das Unternehmen. Die Ergebnisse dieses Prozesses wurden in mehreren Büchern publiziert, deren Gestaltung ebenfalls Aicher übernahm und auch einige Texte beisteuerte. Der wohl bekannteste dürfte „Wittgensteins Griff“ von 1986 sein, in dem Aicher die Idee für den neuen Auftritt und das neue Logo von FSB erklärt. Es erinnert stark an einen Griff, den der Philosoph Ludwig Wittgestein einst für das Haus seiner Schwester in Wien anfertigen ließ. Was Wittgenstein gesucht hatte, war das Ideale, die endgültige Form, gemäß seinem Ausspruch „Alles was man sagen kann, kann man klar sagen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen.“ (aus dem Tractatus Logico-Philosophicus) So war sein Griff kein spezieller Griff sondern der allgemeine: ein einfaches, im rechten Winkel gebogenes Rohr mit halbkugeligem Ende. Es war der ideale Griff, der für alle Arten zu Greifen gleichermaßen funktionierte. Und noch etwas fand Aicher interessant: Mit zunehmenden Alter verwarf Wittgenstein seine Vorstellung von der idealen Form und setzte an deren Stelle den Gebrauch. Das wichtigste an einem Griff ist daher das Greifen und nicht seine Form. Wittgenstein selbst kam jedoch nicht mehr dazu, einen Griff nach seiner neuen Philosophie zu entwerfen. Doch der Grundstein für die nachfolgenden Generationen war damit gelegt. Die Ideen von Wittgenstein flossen aber nicht nur in das Logo von FSB, sondern auch in den neuen Claim mit ein: Greifen und Griffe. Gebrauch und Objekt sind untrennbar miteinander verbunden.
Was Aicher ebenso förderte, war der Dialog mit anderen Gestaltern. So gelang es mit seiner Hilfe, im September 1986 ein Treffen mit den bekanntesten Designern und Architekten jener Zeit zu organisieren, die eigens in das beschauliche Brakel im Weserbergland reisten, um dort über das Thema Türklinke zu diskutieren. Ein viel beachtetes Ereignis, das eigentlich nur in Mailand hätte stattfinden können. Und der Karlsruher Grafiker Gunther Rambow entwarf im Jahr 1993 zusammen mit zwölf Studenten ein Buch mit dem Titel „Übergriff“, das sich auf spielerische Weise mit dem Thema Greifen und Griffe beschäftigt und bereits mit mehreren Designpreisen belohnt wurde.
In diesem Jahr hat FSB eine weitere Kooperation gestartet und eine Reihe von bekannten internationalen Gestaltern gebeten, unsere Gewohnheiten zum Thema Türklinke in Frage zu stellen. Müssen die Griffe eigentlich immer als Paar identisch sein? Und sollte es nicht an jeder Tür eine Klinke für die rechte als auch für die linke Hand geben? 32 Architektur- und Designbüros haben daraufhin geantwortet – paarweise. Unter den Teilnehmern finden sich unter anderem EOOS Design, Studio Aisslinger, Hild und K Architekten, Barkow Leibinger Architekten sowie Kahlfeld Architekten. Von allen Paar-Klinken wurden Prototypen angefertigt, die nun in einer Ausstellung in Berlin präsentiert werden.
Die Eröffnung dazu findet am 9.November 2006 um 20 Uhr im Stilwerk in der Kantstrasse statt. Um Anmeldung wird gebeten.
Links
FSB-Produkte bei Designlines
www.designlines.deOtl Aicher
www.otlaicher.deMehr Stories
Komfort-Bausteine
jehs+laub gestalten das Polsterprogramm oval für Brunner

Auf Tuchfühlung
Unterwegs auf dem Münchner Stoff Frühling 2023

Neue Räume entfalten
Kooperation zwischen Brunner und atelier oï trägt erste Früchte

Best Workspaces 2023
andOFFICE und Gruppe GME Architekten gewinnen ersten Preis

Gestaltungsvielfalt in neuen Tönen
Kollektions-Relaunch bei Project Floors

Starkes Schweden
Neues von der Stockholm Design Week 2023

Raus aus dem Möbeldepot
Mobile Einrichtungslösung aus alten Abfalleimern setzt auf Upcycling

Adaptives Multitalent
Das Gira System 55 wird 25

In den Kreislauf gebracht
JUNG erarbeitet sich Cradle to Cradle-Zertifizierung für komplexes Produktsortiment

Best-of Orgatec 2022
Design zum Wohlfühlen von der Kölner Büromöbelmesse

Atmosphärische Übergänge
Hybrides Arbeiten zwischen Büro und Homeoffice

Technik-Upgrade für den Wohnraum
News und Trends von der Elektronikmesse IFA

Meister der Zweitnutzung
Neues Design aus alten Möbeln von Girsberger Remanufacturing

Von der Fläche in den Raum
Formholzmöbel feiern ein Comeback bei Thonet

Innovationsfreu(n)de
Brunner und Stefan Diez präsentieren den Schalenstuhl mudra

Planet Plastik
Neue Ausstellung im Vitra Design Museum

Ausgezeichnete Bürogestaltung
de Winder Architekten gewinnen den Award Best Workspaces 2022

Neue Tendenzen im Büro
HofmanDujardin über fünf Entwicklungen, die den Arbeitsplatz prägen werden

Die Teppicharchitekten vom Niederrhein
Raumzonen schaffen mit Materialien, Mustern und Farben

Signaturen der Macht
Wie sich das Chefbüro mit Komfort und Haltung neu belebt

Klappen, falten, transformieren
Workspace in Progress: Ausstellung im MAKK

Zeitloser Funktionalismus
Mid-Century in der zeitgenössischen Innenarchitektur

Supersalone 2021
Die Highlights aus Mailand

Maßstab Mensch
Rückblick auf unsere Veranstaltung zu Themen der Innenarchitektur

Loungige Landschaften
pads und pads sofa von jehs+laub für Brunner

Gib Stoff!
Diese Textilien können mehr als nur gut aussehen

Arbeiten überall
Wie das Büro neu erfunden wird

Renaissance der Schalter
Zukunftsgerichtete Gebäudetechnik jenseits des Smart Home

Best-of Salone del Mobile
Eine stille Retrospektive auf die Mailänder Möbelmesse

Material der Wahl
Vier Designstudios und ihre aktuellen Werkstofffavoriten
