Helsinki Design Week/ Habitare 2011
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Irgendwie hat in Finnland alles eine gute Form. Da ist zum einen das gefällige Schriftbild mit den zahlreichen doppelt aneinander gereihten Umlauten, die funktionalistische Architektur der dreißiger Jahre, das Werk des noch immer allgegenwärtigen Alvar Aalto und natürlich das finnische Gebrauchsdesign. Hier ist es wirklich im Alltag angekommen: Von Marimekko, über Arabia bis hin zu Iittala gibt es wohl kaum einen finnischen Haushalt ohne ein Stück dieser Hersteller. Und sie waren es auch, die auf der Möbelmesse Habitare punkteten, die letzte Woche parallel zur Helsinki Design Week stattfand. All diesen Veranstaltungen warf jedoch ein anderes Ereignis seinen Schatten voraus: Helsinki darf sich im nächsten Jahr World Capital of Design nennen.
Nach Turin 2008 und Seoul 2010 ist Helsinki die dritte Stadt, die diesen Titel trägt. Warum, ist unschwer zu erraten: Nicht nur kommen Gestalter wie Alvar Aalto, Kaj Franck, Tapio Wirkkala und Harri Koskinen aus dem hohen Norden, in der finnischen Hauptstadt sind ganze zehn Prozent der arbeitenden Bevölkerung in der Kreativwirtschaft beschäftigt. Oder wie es der Organisator der World Capital of Design, Pekka Timonen, beschreibt: Helsinki ist schlichtweg „driven by Design“. Und genau deshalb lautet das Motto für 2012 auch „Embedding Design in Life“, denn davon sind die Organisatoren des Großereignisses überzeugt: Nachhaltiges Design verhilft zu einem besseren und glücklicheren Leben. Wie ein besseres Leben in Form von Produkten aussehen kann, war dann zur Eröffnung der Helsinki Design Week in einem atmosphärischen Lagerhaus aus dem Jahr 1899 zu sehen.
Helsinki Design Week: handgemacht und experimentell
Hier fand erstmals die Hauptausstellung der im Jahr 2005 lancierten Helsinki Design Week statt, kuratiert von Kaj Kalin, ergänzt um einen Pop-up-Shop. Bespielt wurde das Erdgeschoss des Backsteingebäudes. Das Konzept: Die ausgestellten Objekte sollen nicht einfach nur sexy sein, sondern sich mit dem wirklichen Leben beschäftigen, es im besten Fall verbessern helfen, so der Anspruch des Kurators. Yuri Suzuki stellte – angesichts des Atomunfalls in Fukushima eine lebensnahe und praktische Idee – einen selbstgebauten Geigerzähler vor, Whirlpool präsentierte einen in Einzelteile zerlegbaren Kühlschrank, der je nach Geldbeutel und Gebrauch zusammengesteckt werden kann und Harry Thaler zeigte mit einem Augenzwinkern den 1 Barrell Seat, der zurzeit weltweit „most important currency unit“, so Kurator Kalin. Ebenfalls humorvoll, aber gleichzeitig poetisch kam der kreisrunde Teppich Silence des norwegischen Designstudios Permafrost mit den eingelassenen „Fußstapfen“ eines unbekannten Tiers daher. Ebenfalls einen Teppich und ebenfalls ein älteres Produkt präsentierten Erwan und Ronan Bouroullec mit Losanges. Insgesamt wirkten die Ausstellungsstücke im Old Customs Warehouse ein wenig zusammengewürfelt. Bereits Etabliertes wurde vermischt mit Experimentellem wie dem bestickten Hirschkopf von Frédérique Morrel oder den Modekreationen von Poola Kataryna oder St. Vacant. Etwas diffus blieb die Auswahl der Produkte, zumal manche von ihnen schon mehr als fünf Jahre auf dem Buckel haben.
Habitare: Fokus Nachhaltigkeit
Weniger experimentell, dafür umso etablierter ging es erwartungsgemäß auf dem Messegelände von Helsinki zu. 1970 gegründet, kann die jährlich stattfindende Möbelmesse Habitare zwar nicht mit dem Mailänder Salone del Mobile oder der Kölner imm mithalten, ist mit 17.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche jedoch die größte Möbel- und Designmesse Finnlands. 70.000 Besucher und 608 Hersteller zählte die Messe in diesem Jahr und verzeichnete damit im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs. Erstmals wurde die neu eröffnete Halle 7 bespielt. Auf 2.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche tummelten sich hier die designaffinen Hersteller, ergänzt um die Sonderausstellungsbereiche Ahead!, EcoDesign und Trash Design.
In Halle 7 stellte der finnische Hersteller Tonfisk Design seine minimalistische, jedoch immer mit einem speziellen Clou versehene Tableware vor. Getreu dem Motto des Unternehmens „Form follows function doesn’t mean all objects have to look the same“. So gab es hier eine Milchkanne mit einem Deckel, der gleichzeitig als Zuckerbehälter dient, zu bestaunen (Newton von Tanja Sipilä) sowie ein Salz- und Pfefferset, das durch einen übergroßen Korken geöffnet und verschlossen werden kann, während dieser gleichzeitig als Objektfuß dient (Shake von Brian Keaney).
Von den wenig aufregend gestalteten Messeständen stach der des finnischen Herstellers Iittala hervor. Hier standen die Entwürfe von Kaj Franck – dem noch bis Ende des Monats eine großangelegte Ausstellung im Designmuseum von Helsinki gewidmet ist – ganz im Fokus des Geschehens. Die finnische Designikone wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden und so stellte Iittala mitten auf dem Stand zahlreiche seiner kunterbunten Glaskreationen wie die Trinkglas- und Vasen-Linie Kartio aus. Das Buffet wurde passend dazu auf dem neu lancierten Mini Serving Set seines Klassikergeschirrs Teema in Form von Dreiecken, Kreisen und Rechtecken serviert. Daneben präsentierte Iittala auch sein neuestes Produkt, mit Verweis auf die nahende Wintersaison: die vom finnischen Designer Ilkka Suppanen entworfene Feuerstelle Kaasa.
Messeneulinge
Neben Iittala gefiel auf der Messe noch ein anderer Stand, der ebenfalls Tableware präsentierte: Table, Cup and Glass nannte sich eine minimalistische Installation von Studenten der School of Art and Design der Aalto University. Auf schlichten Tischen wurden Porzellan- und Glasobjekte verschiedener Gestalter präsentiert, begleitet von einer gelungenen Publikation. Überhaupt boten die Jungdesigner auf der Habitare mit ihrem unverbrauchten Blick die interessantesten Objekte, wie Protoshop bewies. So nennt sich ein Projekt, bei dem die drei Designerinnen von Imu Design zusammen mit der Finnish Fair Corporation ausgewählten Talenten eine Plattform bieten. Ausgestellt wurden Prototypen von elf Designern, darunter Möbel, Leuchten und Tableware. Neben dem deutschen Designer Jakob Schenk, der ein quietschgelbes Sofa namens Lina präsentierte, stellte Panu Kontkanen mit L’Edge einen Bordstein samt integrierter LED-Leuchte vor und Julie Scheu hatte sich einen Kerzenständer ausgedacht, der gleichzeitig als Tablett funktioniert.
Nebenschauplätze: Ahead! und EcoDesign
Ahead! nennt sich ein 2007 lancierter Bereich der Messe, dessen Fokus auf temporärem Design liegt. Dieses Jahr gab das Oberthema Transformation in dem vom finnischen Büro Sotamaa Design gestalteten Bereich den Ton an. Transparente Stoffbahnen teilten die verschiedenen Stände in der tageslichtdurchfluteten Halle voneinander ab. Zentraler Treffpunkt war der Reading Corner, für den das Designergeschwisterpaar Kivi und Tuuli Sotamaa Hocker und Tische gestaltet hatte, die zwar aus fester Pappe gefertigt und wie Origami gefaltet waren, aber als Oberfläche die Stoffmuster der Herbstkollektion der finnischen Designlegende Marimekko verwendeten.
Ebenfalls farbenfroh, aber mit ernstem Hintergrund ging es im Sonderausstellungsbereich EcoDesign zu, der dieses Jahr unter dem Motto Multifunktionalität stand. 102 geladene Designer stellten sich der Aufgabe und setzten dieses Motto in ein ökologisches Produkt um. Konstantin Grcic als Jurymitglied gab die Preisträger bekannt und machte in seiner Rede klar, dass für ihn gutes Design immer automatisch multifunktional und ökologisch sei. Belohnt mit Preisen wurde Björn Dahlströms wandelbarer Platform Chair ebenso wie Eeva Lithovius’ Klappregal Klaffihylly sowie die ästhetisch und funktional ansprechenden weißen Fahrradtaschen Hakaniemi von Elina und Klaus Aalto, von denen Fahrradfan Grcic besonders angetan war. Kreativ zeigten sich auch die Teilnehmer der erstmals stattfindenden Ausstellung Trash Design, ganz nach dem Motto „One man’s trash is another man’s treasure“. Studenten von finnischen Designschulen und dem Stockholmer Konstfack College of Arts, Crafts and Design zeigten Produkte aus Abfall, Getragenem oder nicht mehr genutzten Dingen und transormierten diese in etwas Neues.
Auffällig auf der Messe war das Fehlen großer international agierender Möbelhersteller wie Ligne Roset, B&B Italia, Vitra, Fritz Hansen oder Cassina. Der hohe Anteil an skandinavischen Herstellern auf dieser insgesamt recht familiär wirkenden Messe erstaunt hingegen weniger, auch wenn die meisten hierzulande fast unbekannt sind. Zu Unrecht, wie der finnische Hersteller Nikari – der übrigens eng mit Alvar Aalto zusammenarbeitete – beweist. Nikari, 1967 von Kari Virtanen gegründet, fertigt sämtliche Produkte in dem kleinen finnischen Dorf Fiskars in Handarbeit und legt Wert auf einen langen Produktlebenszyklus. Hier ist es wieder, das typisch finnische Design, das seinen Ursprung hat in der Natur, in der weiten Landschaft mit ihren dichten Wäldern und unzähligen Seen. Neu im Sortiment der vorwiegend aus einheimischen Hölzern gefertigten Möbel Nikaris ist der Sessel YKA2-4 von Kari Virtanen und Yrjö Kukkapuraa sowie der Tisch YKP1 desselben Designduos. Darauf hätte sich wohl manch ein gestresster Messebesucher am liebsten niedergelassen und wäre so schnell nicht mehr aufgestanden.
Buchtipps
Katalog Helsinki Design Week 2011
Helsinki, Wallpaper City Guide, London 2010
David Sokol, Nordic Designers, Stockholm 2010
Iittala, 125 Years of Finnish Glas, Designmuseum Helsinki 2006
Päivi Juntunen, Kaj & Franck, Designs & Impressions, Hämeenlinna 2011
Links
Helsinki Design Week
www.helsinkidesignweek.comHabitare
:http://web.finnexpo.fiAhead!/ Habitare
www.aheadhabitare.fiWorld Design Capital Helsinki 2012
wdchelsinki2012.fiDesignmuseum Helsinki
www.designmuseo.fiHEL YES!
www.helyes.fiHelsinki
www.visithelsinki.fiVisit Finland
www.visitfinland.comMehr Stories
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