Stories

IAA 2015: Gesten von morgen

Neues Design, bessere Technik und altbekannte Versprechen zur Automesse. Dabei hat der Wettlauf um neue Mobilitätssysteme längst begonnen.

von Jörg Zimmermann, 22.09.2015

Ein Auto dient dem Transport von Menschen und Dingen. Man kann es so pragmatisch sehen. Oder begeistert in den vierrädrigen Gefährten schwelgen. Man freut sich an kühnen Formen und feiner Linienführung, an atemberaubender Motorenleistung und neuer Sicherheitstechnik, an Verarbeitung, Materialien, Farben und Extras. Doch das Auto als unverzichtbares Symbol von Freiheit, als allseits sichtbarer Ausdruck von Klassenzugehörigkeit oder Individualität, das war gestern. Ein Nachbericht von der Internationalen Automobil-Ausstellung.

Für morgen ist das Automobil als Problemfall identifiziert. Auch wenn hunderttausende Besucher sich neugierig auf den Weg zur IAA machten: Die Stammmärkte haben eine gewisse Sättigung erreicht, über 44 Millionen Autos rollen aktuell allein durch Deutschland. Die Kapazität der Straßen stößt in den Städten in aller Welt längst an ihre Grenzen, das Auto ist mit grüner, gelber oder roter Plakette mal mehr, mal weniger als Umweltsünder testiert, während die Endlichkeit des Erdöls ein apokalyptisches Stillstandsszenario am Horizont aufscheinen lässt. Statt nach Autos wird heute schon verstärkt nach Mobilität gefragt, individuelle Fortbewegung hängt nicht von den eigenen vier Rädern ab, sondern von funktionierenden Systemen, die sich um Fahrzeugkategorien wenig scheren.

Ausgefeilte Karosserie
Klar ist, Fragen zukünftiger Mobilität lassen sich kaum mit technischen Kniffen oder gefälligen Designlösungen beantworten, auch wenn die Entwicklungen im Detail durchaus Anerkennung verdienen. Beispiel BMW, die 7er Reihe. Die Konstrukteure haben am Aufbau der Karosserie gefeilt, für jeden Anwendungszweck ein optimiertes Material gewählt. Stahl in der Bodengruppe begünstigt einen tiefen Schwerpunkt, der Carbon-„Core“ sorgt für Steifheit und Leichtigkeit der Fahrgastzelle. Die Entwicklung, Konstruktion und Design gehen Hand in Hand, auch wenn die Designer halböffentlich mehr Einfluss fordern, schließlich sei Design wichtigstes Verkaufsargument. Man kann sich wundern, dass in den Vorständen der Automobilkonzerne Design als Kompetenz noch nicht qua Position verankert ist, doch der logische und konsequente Schritt steht auch in vielen anderen Branchen noch aus. Ändern wird sich diese Situation erst, wenn Design nicht mehr als bloße Formgebung, sondern als unternehmerisch relevante Methode anerkannt wird.

Hofmeister am Stück
Ihre Arbeit am neuen 7er haben die BMW-Designer dennoch gut gemacht. Die Flächen sind angenehm schwungvoll geglättet, Ein- und Auslassöffnungen für die Luftströme beispielsweise formschön in die Karosserie integriert und der Hofmeister-Knick in einem Stück realisiert. Chapeau, die Grafik des 7er-Exteriors stimmt. So stellt man sich Autodesign im Luxussegment vor. Die unaufdringliche Eleganz passt zum aktuellen Markenbild und setzt sich mit der Suche nach differenzierenden Gestaltungsdetails im Inneren fort. Leder, Holz, was das Herz begehrt. Da passt auch das neue Belüftungs- und Duftsystem, das mit einer Auswahl an maßgeschneiderten Düften dem Geruchssinn schmeicheln will. Premium-Fahrzeuge sind heute ganzheitlich gestaltet, verdammt nah am vermeintlichen Ideal.

Rasante Revolution
Innovation beim Thema Mobilität ist das aber noch nicht. Da müssen andere Kräfte ran. „Die Digitalisierung der Mobilität ist das Megathema, das die Automobilindustrie mit hoher Innovationsgeschwindigkeit vorantreibt“, sagt Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie und ehemaliger Bundesverkehrsminister. „Das Automobil steht mitten in einer digitalen Revolution – mit rasanter Geschwindigkeit. Die Automobilindustrie nimmt diesen Wettbewerb an.“ Vollmundige Worte vom Cheflobbyisten, doch was ist dran?

Kraftmeierei im Spiegelkabinett
Noch schauen die Autoriesen selbstzufrieden auf Erreichtes. Und tasten sich, gezwungen von Umweltschutzbestimmungen bei alternativen Antrieben, zaghaft voran. Mit den i-Modellen hat BMW bereits eine interessante Position bei Design und Technologie besetzt, nun ziehen andere Hersteller mit elektrifizierten Modellen nach. Bei Audi ist der Slogan „Vorsprung durch Technik“ noch immer nicht abgeschafft, dabei will das Audi e-tron quattro concept so gar nicht nach Mobilitätsinnovation schmecken. „Elektrischer Fahrspaß ohne Verzicht“ und „Fahrleistungen wie ein Sportwagen“ verspricht der Pressetext: „Wenn der Fahrer das rechte Pedal voll durchtritt, sprintet der Audi e-tron quattro concept aus dem Stand in 4,6 Sekunden auf 100 km/h.“ Verweist diese Kraftmeierei im Spiegelkabinett der IAA-Präsentation auf die Mobilität von morgen? Eher klingt es wie ein Festhalten an Träumen aus einer überholten Zeit.

Utopie banal
Vor wenigen Jahren noch erschienen die Concept-Cars wie begehrenswerte Projektionen aus der Zukunft. Heute wirken die Utopien der Autobauer ernüchternd banal. Scharfe Kanten und aufgeblasene Formen reichen für das Entfachen von Begeisterungsstürmen nicht mehr aus. Etwas anders liegt der Fall bei der Elektrostudie von Porsche. Ein Porsche-Sportwagen mit Elektroantrieb? Die Frage scheint falsch gestellt. Ein Porsche mit einem Konzept, das zur Marke passt. Ein Motor mit packender Leistung, das Design der Porsche-Gestaltungs-DNA verpflichtet, und ein Bedientableau, das erahnen lässt, wie die beschworene Digitalisierung wirklich Einzug in das automobile Umfeld halten könnte. Interface-Gestaltung und Gestensteuerung sind die Stichworte, für Designer und Entwickler stehen augenscheinlich zukünftig neue Aufgaben auf dem Programm.

Treibstoff Daten
Autofahrer werden zu Nutzern von Mobilitätssystemen, da drängen sich Fragen nach Verfügbarkeit von Informationen, nach Vernetzung und Analyse der vorhandenen Daten auf. Wer mit den Daten aus den Verkehrsströmen und dem Nutzerverhalten umgehen kann, wird die Nase vorn haben. Gutes Exterior-Design wird einfach vorausgesetzt, verkaufsentscheidend dürften aber das Interface der Fahrzeuge und das verbundene Mobilitätssystem werden. Doch bei der Gestaltung von zeitgemäßer Usability bewegen sich die Autobauer auf weitgehend unbekanntem Terrain. Dazu gelernt haben die Konzerne in den letzten Jahren allemal, doch noch immer sind die Interiors der Automobile mit ihrer oft unüberschaubaren Zahl an Bedienelementen meilenweit von der Selbstverständlichkeit eines Smartphone-Betriebssystems entfernt.

Und an dieser Stelle lauert wahrscheinlich die größte Gefahr für die oft selbstverliebte Branche. Die Software-Giganten Apple und Google stehen in den Startlöchern, neusten Gerüchten nach käme Apple bereits 2019 mit einem eigenen Fahrzeug auf den Markt. Es ist kaum zu erwarten, dass die neuen Player sich brav in die automobile Evolution einreihen, eine kleine Revolution wird der erste Auftritt schon sein. Flexible Mobilitätslösungen sind bereits heute für viele Menschen wichtiger Bestandteil des (digitalen) Lebens, und Google, Apple und andere digitale Größen verstehen eine Menge davon.

Im Rennen um den Automarkt wird die Branche wird wohl weiter ihre gewohnten Runden drehen, der Wettlauf um die Vorherrschaft bei den Mobilitätssystemen hat jedoch gerade erst begonnen.

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