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Lernen vom Bauhaus?

von Claudia Simone Hoff, 22.11.2007

1930 fand im Pariser Grand Palais, auf Einladung der französischen Societé des artistes décorateurs, eine Ausstellung des Deutschen Werkbundes statt. Walter Gropius, Herbert Bayer, Marcel Breuer und László Moholy-Nagy – alle zuvor am Bauhaus tätig – stellten dort ihre fulminante Vision des modernen Lebens in einem imaginären zehngeschossigen Hochhaus vor. Die Ausstellung der „Section Allemande“ versammelte in fünf Räumen Ideen zur Gestaltung sämtlicher Innenräume dieses „Wohnhotels“ mit Gemeinschaftsräumen und privaten Apartments. Anfang- und Endpunkt der Ausstellung war der von Gropius gestaltete Gesellschaftsraum, der es mit seiner Infrastruktur ermöglichen sollte, die Größe der eigentlichen Wohnungen zu reduzieren. Neben der Gesamtgestaltung standen Möbel, Beleuchtungskörper, ein Theatersaal, Kunstobjekte von Bauhaus-Meistern und Alltagsgegenstände aus deutscher Produktion im Vordergrund der Präsentation.
„Die neue Zeit ist eine Tatsache; sie existiert ganz unabhängig davon, ob wir 'ja' oder 'nein' zu ihr sagen.“ (Walter Gropius)
Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Architektur- und Design-Ausstellungen. Der Pariser Werkbund-Ausstellung wurde eine hohe politische Bedeutung zugemessen, denn hier präsentierte sich Deutschland erstmals auf einer französischen Kunstgewerbe-Ausstellung nach Beendigung des 1. Weltkrieges. Die kompromisslose Gestaltung der fünf Ausstellungssäle war verbunden mit der Vorstellung eines neuen Gesellschaftsmodells, bei dem die Frau neben dem Mann eine gleichberechtigte Stellung einnehmen sollte und die Überwindung alter Familienstrukturen propagiert wurde. Zudem war Gropius der Überzeugung, dass ein kleines Apartment dem „Nomadentum“ des modernen Großstädters entgegenkommen würde, weshalb er den Fokus auf die Gestaltung der Gemeinschaftsräume legte.
Betritt man die teilweise rekonstruierten Räume der Pariser Ausstellung im Berliner Bauhaus-Archiv, fühlt man sich direkt in die Zeit um 1930 zurückversetzt, allerdings gesehen durch Gropius` Augen. Denn der gemeine Bürger lebte damals nicht in Stahlrohr und Glas. Da waren eher üppig-plüschige Formen und Materialien angesagt. Wie nun sah die von Gropius propagierte „neue Zeit“ aus? Für uns sicherlich auch heute noch hochgradig modern. Wahrscheinlich ist es diese – trotz eines Alters von fast 80 Jahren – Modernität, die das Bauhaus-Design allseits beliebt macht (und natürlich der „Design-Heiligenschein“, mit dem es umgeben ist).
Fünf Säle voller Überraschungen
Jeder der fünf Pariser Ausstellungsräume, die einen festen Parcours bildeten, wirkte auf seine Art modern und zukunftsweisend. Anfang- und Endpunkt bildete der in Saal 1 aufgebaute, spektakulär gestaltete Gesellschaftsraum von Gropius mit Café-Bar, Tanzfläche und Bibliothek, Spieltisch, Grammophon und Nachrichtenwand sowie Räumen für die sportliche Betätigung mit Swimmingpool, Massageliege und Sportgeräten. Von einer Rampe aus Stahl-Fertigteilen konnte der Besucher diesen Raum von oben betrachten. Ein Höhepunkt der Ausstellung war sicherlich die Präsentation von Moholy-Nagys kinetischer Lichtskulptur „Licht-Raum-Modulator“ in Saal 2, der zudem Figurinen aus Oskar Schlemmers „Triadischen Ballett“, einen Film-Vorführraum mit Marcel-Breuer-Bestuhlung und eine Leuchten-Musterschau zeigte. In Saal 3 hatte Marcel Breuer ein Apartment für ein kinderloses Paar eingerichtet. In seiner Vision des modernen Wohnens trennte er die Kleinwohnung nicht zwischen Wohn- und Schlafbereich, sondern wies Mann und Frau jeweils einen Raum zu. Beide Zimmer waren mit Stahlrohrmöbeln eingerichtet. Interessant war auch Saal 4, in dem mustergültige Alltagsgegenstände aus deutscher Produktion ausgestellt waren. Besonders anhand der Ausstellungsgestaltung wurden die Gleichartigkeit seriell hergestellter Produkte und der Rhythmus der industriellen Produktion dargestellt – ein wichtiges Anliegen des Werkbundes. Unmengen von Gabeln, kleinen Küchengeräten, Schalen und sogar Christbaumkugeln wurden aneinandergereiht in einer überdimensionierten Vitrine ausgestellt. Ähnlich ging Bayer bei der Gestaltung des Architektur-Saales (Saal 5) vor, in dem er Stühle von der Wand hängen ließ, ein Modell des Dessauer Bauhauses ausstellte und Großfototafeln in extravaganten Winkeln an der Decke installierte. Die Pariser Ausstellung war bis ins Detail nach Werkbund- und Bauhaus-Ideen gestaltet. So entwarf Bayer auch das Ausstellungsplakat und die Ausstellungsbroschüre mit schönen (typo-)grafischen Kniffen. Im Vergleich mit der französischen Sektion der Ausstellung nahm sich die deutsche Präsentation durchgehend futuristisch aus.
Und heute?
Hochhäuser haben sich, außer vielleicht in wenigen Großstädten, nicht als Lebensform durchgesetzt. Hochhäuser à la Unité d’ Habitation von Le Corbusier gelten als gescheiterte Projekte. Jedoch geht der Trend hin zum innerstädtischen Wohnen: In deutschen Großstädten wie Berlin und Hamburg ist die zunehmende Errichtung von Townhouses, kleinen Reihenhäusern mit eigenem Garten, oder gar Hausbooten zu beobachten. Dem Traum vom eigenen Häuschen, das Zurückziehen in die eigenen vier Wände (gern auch als „Cocooning“ bezeichnet) wird wohl so schnell nichts entgegengesetzt werden können. Man will wieder zeigen, was man hat respektive besitzt. Und dazu eignen sich die in den 1920er Jahren entworfenen, heute fast unbezahlbaren Möbel der Bauhaus-Meister, die auch auf der Pariser Ausstellung zu sehen waren, ganz besonders. Sie sind beliebt bei den modernen Stadtnomaden. Dass sie nun nicht im 10. Stock eines Hochhauses, sondern in einer mehr oder weniger biederen Reihenhaus-Siedlung stehen, tut ihrer Modernität keinen Abbruch, auch wenn Gropius darüber wahrscheinlich nicht glücklich gewesen wäre. Ein Trend, den Gropius frühzeitig erkannte, war die Sehnsucht des gestressten und naturentfremdeten Großstädters nach Gesundheit und Wellness, wie sein aufwändig gestalteter Raum mit Swimmingpool, Kletterwand und Massageliege auf der Pariser Ausstellung bezeugt. Wenn schon nicht zuhause, so findet man solche mehr oder weniger luxuriösen Räume heute in Fitness-Studios, Spas oder Hotels wieder.
Der von Gropius gestaltete Gesellschaftsraum, der Architekturraum von Bayer und der erstmals in Paris vorgeführte „Licht-Raum-Modulator“ von Moholy-Nagy sind in der Ausstellung „Werkbund-Ausstellung Paris 1930 – Leben im Hochhaus“ im Berliner Bauhaus-Archiv rekonstruiert bzw. ausgestellt und geben so ein wenig Flair der damaligen Ausstellungsatmosphäre in Paris wieder.
Bauhaus-Archiv Museum für Gestaltung
Klingelhöferstr. 14
10785 Berlin
„Werkbundausstellung Paris 1930 – Leben im Hochhaus“
21.11.2007 – 07.04.2008
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Links

Bauhaus-Archiv Museum für Gestaltung

www.bauhaus.de

Werkbundarchiv / Museum der Dinge

www.museumderdinge.de

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