Möbelmesse Stockholm 2012 – Alvar Aalto im Schleudergang
Es wird rund und weich in den heimischen vier Wänden. Die Stockholmer Möbelmesse, die diesen Samstag nach fünf Ausstellungstagen zu Ende ging, setzte ganz auf skandinavische Werte und verfeinerte historische Vorläufer zu körperschmeichelnden Komfort-Paketen. Für Aufsehen sorgte vor allem der versierte Einsatz von Farbe, der selbst die Wand gezielt ins Visier nahm.
Es gibt nur wenige Messen, die derart schnell auf den Punkt kommen. Lediglich vier Hallen umfasst das Stockholmer Messegelände, von dem die Ende 2009 errichtete Halle A gleich die Hälfte der gesamten Fläche in Beschlag nimmt. In ihr reihen sich die designaffinen Hersteller dicht aneinander und legen den Schwerpunkt klar auf das, was anderswo erst nach mühevollem Passieren endloser Hallen voller Country Home zu entdecken ist: Das zeitgenössische Design.
Auch in Stockholm hat die Zeit gleich mehrere Gesichter. Sie interpretiert die Formen der Vergangenheit auf entwaffnend klare Weise und gibt ihnen dennoch den nötigen Twist, um nicht verstaubt und bieder daherzukommen. Keine Frage, dass hierbei die Klassiker des skandinavischen Designs noch immer als Schlüssel für die Gegenwart dienen. Sie wollen ein gutes Gefühl vermitteln, indem sie Frische mit Nostalgie in Einklang bringen und dem rationalen Argument beim Möbelkauf das entscheidende Bauchgefühl dazugeben.
Sanfte Rundungen
Schlechte Karten hat in diesem Spiel vor allem die Ecke erwischt. Rund und weich sollen die neuen Möbel sein, als müssten sie ihre Besitzer in Schutz nehmen. Wahre Inseln des Komforts ersannen die Berliner Architekten Julia Läufer und Marcus Keichel mit Coupe für Offecct. Der Sessel verfügt über einen weich wattierten Strickbezug, der die Beine sowie die Rückseite der runden Sitzschale umschließt. „Wir wollten einen Stuhl entwerfen, der den Eindruck erweckt, als würde er eine Hose tragen“, erklären die Gestalter, warum der Bezug nach Öffnen des Reißverschlusses abgenommen und in der Waschmaschine gereinigt werden kann.
Ihrem zweiten Entwurf für den schwedischen Möbelhersteller, dem voluminösen Lounge-Sessel Layer, haben die Berliner unterdessen eine multiple Persönlichkeit verliehen. Drei mit Filz gepolsterte Schichten können übereinander gestapelt werden und so den Charakter des Möbels variieren. Dient die unterste Schicht als Hocker, verwandelt ihn die zweite Schicht in einen Stuhl, während die dritte Schicht das Möbel mit hohen Lehnen in einen schallschluckenden Sessel transformiert.
Neu interpretiert statt reeditiert
Die Annäherung zum Thema Klassiker erfolgt weniger wortwörtlich als Reedition, sondern vielmehr als eigenständige Interpretation. Collage heißt der Stuhl des schwedischen Designerinnen-Trios Front für Gemla, der mit einer auffallend grazilen Silhouette in den Raum tritt. Die Rückenlehne neigt sich weit nach hinten und formt einen auskragenden Griff, während ihre Sitzfläche mit breiten Streifen aus Leder verspannt wurde. Der Abstand der Riemen wurde bewusst locker gehalten, um dem Rückengeflecht eine offene und leichte Erscheinung zu geben, die dennoch Spannung und Kraft versprüht. Ein vergleichbares Stuhlgestell hatten die Designerinnen im Archiv des schwedischen Unternehmens ausfindig gemacht, ihm jedoch zu einer klareren und schlankeren Linie verholfen.
Als Hommage à Sigurd Lewerentz bezeichnete der Stockholmer Designer Mats Theselius seinen gleichnamigen Entwurf für Källemo. Dem Wegbereiter der schwedischen Moderne, der sich vor allem mit seinen raffinierten Kirchen- und Friedhofsbauten einen Namen gemacht hatte, wurde auf überaus handfeste Weise Referenz erwiesen. Umhüllt wird die gepolsterte Sitzfläche von oxidierten Kupferplatten, die während der Renovierung der 1966 von Lewerentz errichteten Sankt Peterskirche im Klippan dem Dach entnommen wurden. Das Material, dessen Echtheit mit einem Zertifikat bestätigt wird, bestimmt zugleich die Auflage: 123 Sessel konnten aus den patinierten Kupferplatten gefertigt werden, die von einem Rahmen aus verkupferten Stahl getragen werden und ihren Besitzern mit skandinavischer Architekturgeschichte den Rücken stärken.
Möbel mit Schwung
Was passiert, wenn Alvar Aaltos legendärer Hocker 60 in die Waschmaschine gerät, zeigt Swedese mit Spin von Staffan Holm. Die drei Beine des ursprünglich 1933 für Artek entworfenen Möbels sind während des „Schleudergangs“ zur Seite gedreht worden. Waren Sitzfläche und Beine beim Original noch klar in unterschiedlichen Höhen voneinander getrennt, scheinen die Beine nun aus der Sitzfläche herauszuwachsen. Der Hocker erhält auf diese Weise eine ungewohnte Dynamik, als wolle er jeden Moment davon laufen und eine Spaziergang durch die Wohnung unternehmen.
Der Servierwagen 900/901 (1936-1937) von Alvar Aalto stand Pate für eine spielend leichte Konsole des schwedischen Möbelherstellers Asplund. Tati heißt der Entwurf der Stockholmer Architekten Mats Broberg und Johan Ridderstrale, dessen rechteckige Ablagen von schlanken, stählernen Kufen getragen werden, als würden sie Schlittschuhfahren. Ergänzt wird das Möbel um einen passenden Spiegel, Garderobenständer sowie Esstisch.
Artek selbst unternahm in Stockholm keinen Ausflug in die Archive, sondern suchte bewusst den Anschluss an die Gegenwart. Im eigenen Showroom im Süden der Innenstadt zeigten die Finnen einen neuen Lounge-Sessel sowie einen Beistelltisch von Harri Koskinen als Ergänzung der bestehenden Lento-Kollektion. Deren Name steht im Finnischen für „Flug“ und bringt den Charakter der schwebend leichten Sitzflächen aus dreidimensional verformtem Bugholz durchaus treffend auf den Punkt.
Chirurgischer Eingriff
Nicht nur die skandinavischen Hersteller waren in Stockholm prominent vertreten, sondern ebenso Vitra, Magis oder Wilkhahn. Letzterer nutzte den Messeauftritt, um den Konferenzstuhl Graph von Jehs & Laub vorzustellen, der allerdings auf der Büromesse Orgatec 2010 bereits als Prototyp zu sehen war. Das Stuttgarter Designerduo zeigte diesmal chirurgische Versiertheit und rückte dem Archetypus des Lounge-Sessels mit dem Skalpell zu Leibe. Das Ergebnis führte keineswegs zu seltsamen Deformationen als vielmehr zu schlüssigen Proportionen.
Der Clou: Ein Schnitt zwischen Rückenlehne und Sitzfläche sorgt für Luft, wo sonst keine ist, während zwei metallene Armlehnen die getrennten Polstervolumina als filigrane Verbindungselemente zusammenführen. Auch hier sorgt eine Abrundung der Lehne dafür, dass kein Ellenbogen gestoßen wird, während die innere Aussparung dem Möbel Leichtigkeit und Eleganz verleiht. Da der Schnitt genau in jenem Bereich erfolgte, wo bei einem klassischen Drehstuhl die Mechanik sitzt, griffen die Designer zu einem Trick: Sie implantierten eine Blattfeder mit dauerelastischer Auflage, um auch trockenen Gesprächsrunden mit leichtem Wippen wieder Schwung zu verleihen.
Invasion der Farbe
Waren natürliche Materialien wie Holz und Leder von keinem Stand wegzudenken, fiel eines ebenfalls sofort ins Auge: Farbe in ihrem gesamten Spektrum, die inmitten der naturbelassenen Holztöne sowie dem omnipräsentem Schwarz und Weiß für Akzente sorgte. Neben Hockern und Beistelltischen schlug hierbei die Stunde der Accessoires. So präsentierte der venezianische Designer Luca Nichetto im Untergeschoss des Museum Hallwyl in der Innenstadt die Vasen-Serie Les Poupées, die von der Stockholmer Galerie Pascale vertrieben wird. Der Entwurf basiert auf zwei Komponenten: einem Kerzenhalter aus weiß oder schwarz glasierter Keramik mit einer Vase aus farbig-transparentem Muranoglas als Kopfaufsatz, die zusammengesetzt ein dekoratives Objekt ergeben.
Farbe an die Wand brachte der junge norwegische Designer Bjørn Jørund Blikstad mit seinem Regal Imeuble für das 2011 in Oslo gegründete Möbellabel By Corporation. Das Möbel vermag die Grenze zwischen Zwei- und Dreidimensionalität bewusst zu verwischen: Bleibt es leer, mutet es an wie eine flächige Aneinanderreihung von roter, gelber, türkisfarbener, schwarzer und weißer Rauten. Erst beim Näherkommen entpuppt sich die Plastizität des Entwurfs, und die Rauten verwandeln sich in schräg aus der Wand herausstehende Boxen – mit klar akzentuierten Ecken und Kanten.
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