Nachts um halb eins
Wenn andere schlafen, dann werden sie aktiv. An dunklen Orten, auf stillgelegten Bahngleisen, in Tunneln, auf Dächern oder gar Gletschern. Sie springen durch die Gegend, fuchteln wild mit den Armen und erzeugen dabei hektische Lichtreflexe: die Light-Graffiti-Künstler. Eine Taschenlampe ersetzt die Sprühdose, eine Kamera die Wand und was zunächst aussieht wie eine Art Veitstanz, wird auf dem Foto zu Kunst.
Light-Graffiti, Light-Writing oder Light-Painting funktioniert mit allem, was Licht erzeugt: Lampen, Leuchten, Neonröhren, Fahrradlichter, Fackeln, Feuerwerk oder auch Wunderkerzen. Wichtig ist, dass die benutzte Kamera über ein Stativ und eine manuell einstellbare Belichtungszeit verfügt, die je nach Art des Motivs von wenigen Minuten bis zu mehreren Stunden dauern kann. Bleibt der Verschluss des Objektivs lang genug geöffnet, werden auf dem Foto nur statische Elemente und leuchtende Effekte sichtbar, während bewegliche Menschen verwischen oder ganz verschwinden.
Die ersten berühmten Aufnahmen des Light-Writings lieferte wohl der amerikanische Fotograf Gjon Mili, der Pablo Picasso 1949 in seinem Atelier beim Zeichnen mit Licht festhielt. In Zeiten digitaler Bildmanipulation liegt die Faszination der Bilder vor allem in der Tatsache, dass alles „echt“ ist. Kein Photoshop, keine Montage, nur eine lange Belichtungszeit, viel Geschick und vor allem Geduld. Die Light-Writing-Szene ist inzwischen ebenso riesig wie international. Das Spektrum reicht von freier Kunst bis kommerzieller Auftragsarbeit und auch die großen Marken haben den Trend längst für ihre Werbekampagnen entdeckt.
Light-Graffiti seit 1980
Als wahre Pionierin des Graffiti aus Licht gilt die amerikanische Künstlerin Vicki Da Silva, die schon in den achtziger Jahren anfing, ihre charakteristischen Schriftzüge auf Fotos festzuhalten. Inspiriert von der frühen Graffiti- und Street-Art-Szene, setzte sie ihre zumeist gesellschaftskritischen Botschaften in einen urbanen Kontext und schuf so sinnreiche Doppeldeutigkeiten. Nach dreißig Jahren künstlerischen Schaffens half ihr nun das Internet, mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie bewarb sich bei der Online-Plattform Artists Wanted, wo sie unter Tausenden Bewerbern für den Wettbewerb Art takes Times Square ausgesucht wurde, um ihr dem chinesischen Künstler Ai Weiwei gewidmetes Werk Jasmine/Never Sorry zu präsentieren. So flimmerte im Juni diesen Jahres ihr mit Licht geschriebenes „never sorry“ auf der berühmtesten Werbefläche New Yorks – ein Höhepunkt in der Karriere der 52-Jährigen.
Lichtmalerei in der Wildnis
Die beiden deutschen Fotografen Cenci Goepel und Jens Warnecke haben sich mit ihrem Projekt Lightmark hingegen ganz dem wildromantischen Light-Painting verschrieben. Gemeinsam reisen sie um die Welt, um an besonders spektakulären Naturschauplätzen eine ätherische Symbiose aus Kunst- und Umgebungslicht zu erzeugen. Da sie auf ihren Bildern nicht in Erscheinung treten möchten, kleiden sie sich ganz in Schwarz und färben auch Gesicht und Hände dunkel – gewissermaßen die Berufskleidung für Light-Painter an Orten, wo das Vermummungsverbot nicht greift. Um ihre Lichtball-Inszenierung auf dem norwegischen Gletscher Briksdalsglacier aufzunehmen, benötigten sie wegen schlechter Wetterbedingungen insgesamt drei Nächte. Die Lichtkugel auf dem blau leuchtenden Gletscher entstand schließlich mithilfe einer LED-Taschenlampe, die an einer Gummischnur um die eigene Achse geschleudert wurde. Durch die mehr als 60 Minuten lange Belichtungszeit verschmelzen die LED-Akzente mit dem Licht der Sterne und ihrer Reflexion auf der schimmernden Eisfläche.
Wasser trifft Licht
Nach wochenlanger Arbeit im Pariser Digitalarti Artlab, einer offenen Medienwerkstatt für Kreative, hat der junge Medienkünstler Antonin Fourneau es geschafft, dem Light-Graffiti ein neues Element hinzuzufügen. Die von ihm entwickelte Mauer aus zahllosen LEDs reagiert auf den Kontakt mit Wasser und bringt so wieder ein altes Werkzeug ins Spiel: die Sprühdose. Im französischen Poitiers feierte die Installation diesen Sommer Premiere. Gemeinsam mit dem Graffiti-Kollektiv Painthouse konnten sich zwei Abende lang Jung und Alt in Sprayer verwandeln: Light-Sprayer.
Durch die beinah grenzenlosen Möglichkeiten digitaler Technik erlebt das Light-Writing derzeit einen regelrechten Boom – wie man nicht zuletzt an der Bilderflut im Internet erkennen kann. Ob das erst der Anfang ist oder vielleicht schon das Ende, wird sich zeigen. In den vielen Nächten, die noch folgen...
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