Post-Corona-Office
Drei Office-Guides für eine neue Büroorganisation
Wie sieht das neue Büro aus? Was bleibt vom „Before-Corona-Office“ und wie lässt es sich in einem pandemieresistenten Büro angenehm arbeiten? Wir haben drei Guides unter die Lupe genommen und stellen die spannendsten Lösungen und Konzepte vor.
Das ersehnte „Post-Corona-Office“ ist erst einmal Illusion. Denn angesichts der wieder steigenden Infektionszahlen und der Tatsache, dass noch kein Impfstoff gefunden ist, wird klar: Es bleibt auf unbestimmte Zeit bei einer Welt mit Corona, die unseren Arbeitsalltag langfristig verändert. Büroräume müssen aufgrund des Gesundheitsschutzes editiert, modifiziert oder neu gedacht werden. Die Möbelhersteller Actiu und Vitra sowie der Einrichter Designfunktion haben sich mit diesen Dimensionen beschäftigt und Guides herausgegeben, die unterschiedliche Lösungsansätze vorstellen. Trotz ihres unterschiedlichen Aufbaus kommen die drei Guides zu ähnlichen Aussagen.
Quick Fixes
Kurzfristig gesehen reicht es, die nötigsten Lösungen rund um den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz umzusetzen: Mund-Nase-Schutz, Desinfektionsmöglichkeiten, gute Durchlüftung. Klingt alles easy. Doch schon bei der Abstandsregel von 1,5 oder 2 Metern beginnt, je nach Layout der Bürofläche, die Komplexität. Denn die Umsetzung bedeutet, dass die Dichte an Arbeitsplätzen in den Büros reduziert, oder umgekehrt, mehr Raum geschaffen werden muss, um die Mitarbeiter besser verteilen zu können. Der spanische Hersteller Actiu macht anhand konkreter Zahlen deutlich, wie enorm sich die Flächennutzung verändert: Während er für einen Arbeitsplatz bisher 11 Quadratmeter einplante, sind es nunmehr 22 Quadratmeter. Theoretisch findet also nur die Hälfte einer Belegschaft Platz.
Das sind drastische Einschnitte, die über Maßnahmen wie Homeoffice, Videoconferencing oder Schichtarbeit aufgefangen werden müssen. Detaillierte Analysen der Raumsituationen und Fakten-Checks sind zusätzlich maßgeblich, um die Büros intelligent umstrukturieren zu können, so Büroeinrichtungsspezialist Designfunktion in seinem „New Office Guide#1“. Folgende Fragen sollten geklärt werden: Welche Personen müssen anwesend sein? Lassen sich Flächen wie Meetingräume umnutzen für Schreibtischarbeitsplätze? Laut den Berechnungen von Designfunktion seien auf diese Weise sogar bis zu 75% der ursprünglichen Kapazitäten wieder herstellbar.
Wirklich, es wird luftiger in den Büros. Eng und in langen Reihen nebeneinander am Arbeitstisch sitzen ist – Gott sei Dank, muss man sagen – passé. Vitra geht daher davon aus, dass Tische breiter und Sitzplätze raumgreifender werden – somit ist automatisch mehr Abstand gewährleistet. Zusätzlich werden Möbel für die physische Distanzierung durch Schutzscheiben auf Tischen optimiert. Neuer Spielraum tut sich auch bei den Sitzplatzanordnungen auf – beispielsweise anstatt direkt gegenüber, versetzt gegenüber.
Neue Gemeinschaft
Eine spannende Frage ist nun: Inwiefern stehen Aspekte zeitgemäßer Büroarbeit wie Meetings oder Kollaboration im Widerspruch zum „corona-sicheren“ Office? Designfunktion prognostiziert diesbezüglich grundlegende Veränderungen in der strukturellen Aufteilung von Büros. Während im traditionellen Bürokonzept vor Corona Basis-Arbeitsplätze und Besprechungsräume dominierten – inklusive wenig Raum für Rückzugsmöglichkeiten, Co-Kreation und Gemeinschaft – hat das moderne Multispace-Büro eine ausgewogene Verteilung aller Bereiche ermöglicht. Das „Post-Corona-Office“ hingegen, so Designfunktion, wird Basisarbeitsplätze und Besprechungsräume enorm reduzieren, da diese mit Homeoffice und Videoconferencing ihre Relevanz verlieren. Die neuen Büros werden sich auf Fokus-Zonen, Co-Creation und Gemeinschaft ausrichten. „Echte Gemeinschaft findet im Homeoffice nur sehr eingeschränkt statt. Die Menschen sehnen sich jedoch danach, auch im beruflichen Kontext. Die Bedeutung von Gemeinschaftsflächen wird daher ebenfalls zunehmen“, sagen die Einrichtungsprofis von Designfunktion.
Modulare Settings
Actiu bestätigt im Guide „How to adapt the workplace to COVID19“, dass wir Räume brauchen, welche die Kreativität und Interaktion zwischen den Menschen fördern, um unser Wohlbefinden zu erhöhen. Ein Aspekt, der gerade während der Pandemie dringend Priorität haben sollte. Der Hersteller regt an, adaptive, modulare Möbel, stapelbare Tische und Stühle zu nutzen, die immer wieder individuelle Konfigurationen ermöglichen. „Constant Change“ lautet das Motto: flexible, wandelbare Räume mit Konfigurationen, die sich spontan an die jeweilige Situation anpassen lassen. Auch Vitra baut auf Zonen für Zusammenarbeit – durch Raum-in-Raum-Settings mit mobilem Mobiliar und Mikroarchitekturen mit Trennwänden. Eine Meetingdauer auf maximal 30 Minuten zu reduzieren, lautet ein weiteres Instrument zum Infektionsschutz. Der Qualitätsanspruch an die Möbel steigt unterdessen: Robustheit, Vielseitigkeit, Langlebigkeit, einfach zu reinigende Materialien sind wichtige Kriterien der Stunde. Konkret also: Weniger Textil- und Polsterprodukte, stattdessen mehr hochwertiger Kunststoff und Holz.
Vitra stellt eine weitere Alternative vor: Jeder Mitarbeiter eines Unternehmens bekommt einen eigenen Stuhlüberzug geschenkt, um Hygiene bei temporärem Aufenthalt im Office zu gewährleisten. Actiu verfolgt den gleichen Ansatz, jedoch mit biologisch abbaubaren Einmal-Überzügen.
Zero-Touch
Nicht zuletzt wird Digitalität künftig einen entscheidenden Beitrag zum Infektionsschutz im Office leisten, das wird in allen Guides deutlich. Dazu gehört in Großunternehmen der Einsatz von „Body Temperature Control“-Kameras, welche die Temperatur der Mitarbeiter am Eingang schnell und unkompliziert erfassen. Oder Smart-Home-Funktionen wie Sensoren und Sprachassistenten, mit deren Hilfe taktile Kontakte in Aufzügen oder Toiletten, an Türen und Lichtschaltern vermieden werden können. Office-Analytics-Systeme können außerdem herausfinden, wie die aktuelle Auslastung und Nutzung eines Büros ist.
Ikonographischer Dialog
Eine wichtige Aufgabe der Unternehmen sollte darin bestehen, bei der Umplanung den Dialog mit den Mitarbeitern zu suchen. Actiu ist dafür, Belegschaften durch neue, charmante Ikonographien für die Hygiene- und Distanzregeln dabei zu unterstützen, die vielen ungewohnten Vorgaben einzuhalten. Eine ähnliche Empfehlung kommt von Designfunktion, mit dem klaren Kommunizieren der neuen Spielregeln durch Ampelsysteme, etwa um den Status quo eines Arbeitsplatzes transparent zu machen.
Darüber hinaus regt der Einrichter an, Wünsche, Sorgen und Herausforderungen der Mitarbeiter zu verstehen, um Vertrauen in unsicheren Zeiten aufzubauen und Produktivität und Wohlbefinden trotz der Einschränkungen zu sichern.
Och, Mensch!
Der Faktor „Menschlichkeit“ also scheint in unseren Umgebungen seit Corona wichtiger als je zuvor. Designerin Hella Jongerius, Art Director for Colours & Materials bei Vitra: „Dieses Thema steht bei mir schon seit langem auf der Tagesordnung, nicht erst seit COVID-19, aber die aktuellen Ereignisse haben es noch wichtiger gemacht.“ Zusätzlich, so meint Jongerius, wird man in Zeiten sozialer Distanzierung bei den Produkten, die wir unweigerlich berühren – also Tische, Sitzgelegenheiten etc. – auf Taktilität größeren Wert legen. „Die Aufgabe ist also, erspürbare Materialien mit einer Verbindung zum Menschen zu verwenden und sicherzustellen, dass sie sich sauber und hygienisch anfühlen.“
Deutlich wird: Das Design spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir die neue Office-Wirklichkeit erleben. Werden die Hygiene- und Abstandsregeln als Belastung erlebt? Oder entfalten sich neue, spannende Möglichkeiten? Ist Corona die Ursache für tiefgreifende Veränderungen, oder Anlass?
Die Guides im Überblick
Der „New Office Guide#1“ von Designfunktion bietet einen schnellen und gut verständlichen Start in die Gesamtthematik. Er präsentiert einen analytischen Ansatz mit klarer Einteilung in kurz-, mittel- und langfristige Umsetzungsziele. Viele sinnvolle Fragestellungen dienen als Tools zur Untersuchung der Situation im eigenen Büro. Die aktuelle Umstrukturierung des Designfunktion-Headquarters in München dient darüber hinaus als praktisches Beispiel.
Der Guide „How to adapt the workplace to COVID19“ von Actiu, bisher nur in Englisch erhältlich, wirkt mit seinen sehr detaillierten und zahlreichen Planungsbeispielen deutlich intensiver und praxisorientierter. Actius „Cool Working“- Philosophie, die auf den Aspekten „Concentration", „Socialisation“, „Education“, „Collaboration“ und „Privacy“ beruht, dient dabei als roter Faden.
Vitra hat mit „Der Weg zurück ins Büro“ sowie „Eine sichere Landung in der neuen Bürorealität“ Guides zum Thema „Post-Corona-Office“ herausgegeben, die, ähnlich wie Actiu, durch gebrauchsfertige Raumlösungen und zahlreiche, praktische Planungsansätze auf die „kommende Normalität“ gut vorbereiten. Der große Unterscheid zu den Guides von Designfunktion und Actiu: Sie sind im „magazinigen“ Look mit coolen Illustrationen von Atelier CTJM um einiges attraktiver gestaltet und bieten mit jeweils über 70 Seiten etwa auch den doppelten Umfang. Das liegt daran, dass ihr Inhalt weitgreifender und um spannende Backgroundinfos, Fallstudien, aktuelle Erkenntnisse rund um Corona sowie Interviews mit Designern oder Beiträge namhafter Autoren angereichert ist. Die beiden Vitra-Guides sind außerdem Teil einer ganzen E-Paper-Serie zu „dieser neuen Welt“, die stets erweitert wird.