Provokation und Mainstream: 30 Jahre Memphis
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Es war heiß an jenem Spätsommertag in Mailand, als dichte Menschentrauben am Abend des 18. September 1981 ein Durchkommen am Corso Europa unmöglich machten. Der Grund für die Aufregung: Die Eröffnung der ersten Ausstellung der Designgruppe Memphis in der Galerie arc’74, die nicht nur die Mailänder Möbelmesse mächtig durcheinander würfelte, die damals im September und nicht wie heute im April stattfand. Auch die Designwelt sollte fortan eine grundlegend andere sein als in den Jahren zuvor.
Die Platte hatte einen Sprung – doch diesen an der richtigen Stelle. „Stuck inside a Mobile with the Memphis blues“, näselte Bob Dylan den Refrain seines gleichnamigen Songs (erschienen 1966 auf dem Album Blonde on Blonde) ins Mikrofon, als ein Kratzer die Nadel auf das Wort „Memphis“ zurückwarf. Das allein wäre keine Meldung wert. Doch an diesem Abend des 11. Dezember 1980 ging es um mehr.
Protest und Sinnlichkeit
Ettore Sottsass, Chefdesigner von Olivetti, Gestalter des ersten italienischen Personal-Computers und zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor seinem 64. Geburtstag, versammelte eine Gruppe junger Gestalter in seiner Mailänder Wohnung. Ihre Namen: Michele De Lucchi, Barbara Radice, Marco Zannini, Aldo Cibic, Matteo Thun und Martine Bedin. „Wir arbeiteten gemeinsam und trafen uns regelmäßig bei unserem Meister. Er hat eine klare Strategie vorgegeben – ein gemeinsames Verständnis von ‚Sensorialisierung’“, erinnert sich Matteo Thun. Dass Sottsass eine eigene Bewegung gründen wollte, basierte auf einem Zerwürfnis mit Alessandro Mendini. Beide waren Mitglieder des 1976 in Mailand gegründeten Studio Alchimia. Während Mendini die Meinung vertrat, dass alle Dinge bereits existieren und deswegen nur re-designt werden können, war Sottsass weit weniger pessimistisch und suchte den Weg nach vorn. Der Name der neuen Gruppe war dank des Sprungs in der Platte schnell gefunden: „Memphis“ verkörperte nicht nur die Popkultur eines Elvis Presley, sondern verwies ebenso auf die gleichnamige Hauptstadt des Alten Ägyptens und die Erhabenheit der antiken Welt.
Das Zusammenspiel aus Ernsthaftigkeit und Spaß, das sich die Memphis-Gruppe zum Ziel setze, wurde vor allem in Deutschland mit Irritation aufgenommen. Denn was Sottsass und seine Jünger im Sinn hatten, war kaum weniger als ein Frontalangriff auf die Grundwerte deutscher Gestaltung. Anstelle des Minimalismus der Ulmer Schule und der Geräte von Braun, die die Erscheinung von Elektro-, Küchen- und Einrichtungsprodukten rund um den Globus verändert hatten, proklamierten die Memphis-Designer eine bunte, verspielte und bewusst kitschige Gestaltung: „Wir verstießen einfach gegen jede Konvention. Es gab für uns keine Referenzpunkte in der Geschichte. Wir haben uns nie über Futurismus oder irgendeinen anderen -ismus unterhalten. Wir waren schlicht und einfach wütend auf den Ist-Zustand im Produktdesign“, bringt Matteo Thun das Ansinnen der Gruppe auf den Punkt.
Wahrnehmung der Oberfläche
„Was haben wir falsch gemacht?“, lautete die Frage, die sich viele Ulmer nun stellen mussten, die doch eigentlich dachten, alles richtig gemacht zu haben: Einfache, klare und funktionale Entwürfe, mit denen die Bedürfnisse von möglichst vielen Menschen abgedeckt werden sollten. Was in der Theorie gut klingt, hakte aber schon an der eigenen Umsetzung. Denn der Funktionalismus von Ulm kam nicht nur mit zurückhaltenden und praktischen Formen daher, sondern ebenso mit erhobenem Zeigefinger, der keinen Widerspruch zuließ. Wer sich der klaren Industrieform verweigerte, galt automatisch als dumm, rückwärtsgewandt und bürgerlich verspießt. Geopfert wurde auf diese Weise nicht nur der Sinn für die Vergangenheit, der heute durch den Boom von Flohmarkt-Möbeln längst zum generationenübergreifenden Lebensgefühl avanciert ist. Die dogmatische Ausgrenzung einer erkennbaren Handschrift oder sonstiger individueller Ausprägung hat die Produkte zunehmend austauschbar gemacht.
„Memphis protestierte gegen die Verflachung und die Lustlosigkeit des Designs, das sich ausschließlich an der Funktionalität orientierte. Das war unser ‚Wir’-Gefühl!“, erklärt Matteo Thun. Attackiert wurde die „Gute Form“ – der Begriff entstammt einem gleichnamigen Buch von Max Bill aus dem Jahr 1957, in dem dieser einer zeitlose, dauerhafte Gestaltung einforderte. Anders als von ihm beabsichtigt, wurde die „Gute Form“, die ab 1968 zum Namensgeber des heutigen Designpreises der Bundesrepublik Deutschland wurde, zunehmend als eine Festlegung auf Standardformen missverstanden – mit vermeintlich kitschigen Entwürfen, die nicht nur in absurden Formen und schrillen Farben daherkamen, sondern vor allem die Oberfläche in den Mittelpunkt der Gestaltung rückten. So ersann Ettore Sottsass sein berühmtes Bakterienmuster, das er über Möbel und Objekte wuchern ließ, während ungewöhnliche Material- und Oberflächenkombinationen aus Marmor und Laminat zum Einsatz kamen.
Inflation des Stils
Auch nach der Eröffnung der ersten Memphis-Ausstellung, zu der über 2500 Besucher strömten, wurden die wöchentlichen Treffen – „meistens nach 23 Uhr – mit gutem Rotwein und leerem Kühlschrank...“ (Matteo Thun) – beibehalten. Die Memphis-Gruppe wuchs in den folgenden Jahren auf über 20 Gestalter an, darunter George Snowden, Andrea Branzi, Nathalie Du Pasquier, Hans Hollein, Paola Navone und Shiro Kuramata. Auch Alessandro Mendini war der Gruppe verbunden und lieferte ihr mit seinen zahlreichen Texten den theoretischen Hintergrund. Doch so spielend leicht die Arbeiten von Memphis schienen: „Ein hohes Quantum scheinbarer Entwurfsfreiheit macht eine enorme Disziplin notwendig. Also, die vermeintliche Freiheit im Entwerfen und Gestalten von Memphis-Objekten fordert eine höhere Disziplin, als einem Dogma zu folgen“, erinnert sich Matteo Thun.
Der Erfolg der ersten Memphis-Ausstellung sorgte allerdings nicht nur weltweit für Aufsehen: Die Avantgarde-Gruppe traf den Zeitgeist derart auf den Punkt, dass sie über Nacht zum Mainstream wurde. Indem ihre ursprüngliche Protesthaltung zum neuen, verbindlichen Stil wurde, ging nicht nur die einstige Vorreiterrolle verloren. Eine immer größere Zahl an schlechten Kopien nahm den Memphis-Entwürfen ihre einstige Schärfe und stürzte sie schließlich selbst in die Beliebigkeit und Banalität, gegen die sie eigentlich protestieren wollten. Dass Memphis 1988 im verflixten siebenten Jahr wieder aufgelöst wurde, geschah nicht aus Zufall, sondern eher mit Verspätung.
Der Memphis-Effekt
„An einem bestimmten Punkt wollten wir Schluss machen. Wir sagten uns damals, wenn man in der Nacht gemeinsam arbeitet und tagsüber einem Brotberuf nachgeht, dann braucht man ein Manifest. Und ein Manifest ist immer nur dann nachhaltig, wenn es zeitlich definiert und in sich abgeschlossen ist. Ich selbst bin nach zwei Jahren ausgeschieden – so wie wir es ursprünglich beschlossen hatten“, sagt Matteo Thun, der 1984 sein eigenes Büro in Mailand eröffnete.
Was Memphis erreicht hat? „Eine der positiven Auswirkungen ist sicher, dass Memphis den Weg für eine freie Sprache des Designs bereitete und die Industrie in einen langsamen Prozess des Umdenkens geführt hat“, sagt Matteo Thun. Auch wenn viele Mitglieder der Memphisgruppe heute selbst zu klaren, reduzierten Formen greifen, liegt darin kein Widerspruch: „Die Sensorialität ist es, die unsere Moderne auszeichnet. Sie begleitet uns wieder, und wir kommen zurück auf zwischenmenschliche Beziehungen, entdecken unsere Sinne. Wir waren lange Zeit nur „Augenmenschen“, nun sind wir bereit, insbesondere den Tastsinn wieder zu entdecken“, erklärt Matteo Thun, warum Memphis die Moderne nicht beendet, sondern mit sinnliche Materialien und Oberfläche neu belebt hat.
Links
Memphis
www.memphis-milano.itMehr Stories
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