Stories

Purismus auf zwei Rädern

von Norman Kietzmann, 24.08.2010


Das Fahrrad dient weit mehr als nur der Fahrt von A nach B. Eine weltweit vernetzte Szene aus Bastlern, Konstrukteuren und Herstellern hat das Fahrrad zu trendigen Designobjekt erklärt. Mit ihren zumeist von Hand gefertigten Einzelstücken verbinden sie nicht nur den sportlichen Charakter eines Rennrades mit den Anforderungen eines Citybikes. Die neue Rolle des Zweirads reicht sogar bis in die Mode hinein.


Wenn es Nacht wird in Wien, beginnt im „Radlager“ eine zweite Schicht. Das kleine Geschäft, in dem tagsüber historische Rennräder verkauft werden, verwandelt sich dann in eine kleine Bar, die längst zu den angesagten Adressen der Stadt gehört. Unter restaurierten Bianchi-Rädern, die wie Jagdtrophäen von den Wände und der Decke herabhängen, trifft sich hier jedoch alles andere als ein gewöhnlicher Sportverein. Nur die wenigsten der Gäste nutzen ihr Rad tatsächlich für sportliche Wettkämpfe, sondern höchstens zum entspannten Fahren in der Stadt. Manche von ihnen besitzen sogar überhaupt kein Fahrrad und fühlen sich dennoch an diesem Ort bestens aufgehoben.

Obwohl in fast allen europäischen Großstädten City-Räder gemietet werden können, die praktischer Weise auch noch an jeder beliebigen Ausleihstation stehen gelassen werden können, hat das eigene Rad nicht ausgedient. Im Gegenteil: Als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, mit dem nicht nur Sportlichkeit oder ein ökologisches Gewissen gezeigt wird, erfüllt es zunehmend die Rolle eines modischen Accessoires. Im Mittelpunkt stehen hierbei allerdings weniger aus Karbon gefertigte High-Tech-Modelle aus dem Profibereich, sondern die Urform der Zweirades schlechthin: das klassische Rennrad.

Die Urform des Rades


Haben diese das Stadtbild bisher vor allem durch Kuriere geprägt, die mit ihnen souverän an jedem Stau vorbeiziehen, wird das Rennrad nun auch bei denen immer gefragter, die mit weit weniger Zeitdruck unterwegs sind. Denn gegenüber einem City- oder Mountain-Bike haben Rennräder einen entscheidenden Vorteil: Ihre auf Effizienz getrimmte Form erlaubt nicht nur mehr Geschwindigkeit. Sie ist zugleich der Inbegriff für sportliche Eleganz, die nicht zuletzt bei historischen Modellen zum Tragen kommt.

Diese brauchen nicht nur in Geschäften wie dem Londoner Kultladen „Sargent & Co“ erstanden zu werden, wo historische Rennräder behutsam restauriert und für den Einsatz im Stadtverkehr tauglich gemacht werden. Rund um den Globus hat sich längst eine lebendige Szene von Fahrrad-Konstrukteuren entwickelt, die die Form und Beweglichkeit klassischer Rennräder mit den Anforderungen eines Citybikes in Einklang bringen. Ihre Methode: Das Fahrrad wird nicht auf-, sondern so weit wie möglich abgerüstet, was nicht selten sogar zum Konflikt mit dem Gesetz führt.

Fahren ohne Bremse


Als Vorreiter gilt hierbei der New Yorker Francesco Bertelli, der mit seinen puristischen Rädern schnell vom Wohnzimmer-Tüftler zum weltweit gefeierten Fahrraddesigner avancierte. Seine Entwürfe sind Minimalismus auf zwei Rädern: frei von Logos, Schutzblechen, Schaltgetrieben, Leuchten, sichtbaren Schweißnähten und – das ist der entscheidende Punkt – meist auch ohne Bremsen. Während sein Rad „Domenica“ noch über die klassische Rücktrittbremse mit der Kette gestoppt werden kann, kommt das Modell „Performa“ gänzlich ohne Bremse aus. Gestoppt wird über eine Verlangsamung der Trittgeschwindigkeit oder – bei hohen Geschwindigkeiten – indem die Fahrer das Gewicht auf das Vorderrad verlagern und mit der Pedale das Hinterrad ruckartig blockieren. Ist der Nervenkitzel mit den  „Fixed Gear Bikes“ – umgangssprachlich auch „Fixies“ genannt –  im Stadtverkehr garantiert, brechen sie zugleich ganz klar die Regeln der Straßenverkehrsordnung. Die Besitzer müssen an dieser Stelle nicht nur fahrerisches Können beweisen, sondern ebenso ein waches Auge auf die Polizei halten, die die ungebremsten Räder mit Vorliebe aus dem Verkehr zieht.

Sinn für Details


Gebaut werden die Modelle von Bertelli übrigens nicht in Serie, sondern einzeln von Hand. Auch hierin zeigt sich, warum das Zweirad nicht zuletzt bei Hobbybastlern hoch im Kurs steht. Denn von allen Verkehrsmitteln kann es am Leichtesten nach eigenen Vorlieben gestaltet und verändert werden. Die Kür für die meisten Fahrradkonstrukteure liegt allerdings weniger in ausgefallenen Formen als in der Neuinterpretation der klassischen Rennrad-Silhouette. Auf Wettbewerben wie dem seit 1997 stattfindenden „Cirque du Cyclisme“ – auch wenn der Name etwas anderes vermuten lässt, wird dieser im beschaulichen Leesburg, Virginia, ausgetragen – dreht sich alles ums Detail. Vor allem der Konstrukteur Peter Weigle konnte mit Modellen wie seinem „Green Randonneur Bicycle“ gleich mehrfach die Jury überzeugen und gilt längst als Star in der Szene.

Sein Rezept: Er verfeinert die Silhouetten von Rennrädern aus den 50er und 60er Jahren mit beeindruckend präzisen Details. „Was ich mache, sind keine Reproduktionen oder rituellen Wiederholungen von Rädern aus diese Periode“, erklärt Weigle seine Arbeit. „Ich versuche den emotionalen und visuellen Spirit dieser Räder zu erhalten und ihnen meine eigenen Designelemente  hinzuzufügen.“ Sichtbare Schweißnähte sind bei seinen Entwürfen Fehlanzeige. Dafür verfügen sie über eine eigens an den Rahmen angepasste Luftpumpe oder ein unterhalb des Sattels dezent integrierte Rückleuchte aus leistungsstarken LEDs. An der Vordergabel befindet sich eine kaum sichtbare Ablage, die bündig mit dem Schutzblech verbunden ist, und Platz für eine kleine Tasche für Zubehör oder Proviant bietet. Was ihn dabei antreibt? „Ich möchte, dass meine Augen lächeln, wenn ich eines von meinen Rädern sehe“, erklärt Peter Weigle seine Leidenschaft für schnelle Zweiräder.

Gemälde auf zwei Rädern

Weitaus freizügiger im Umgang mit der klassischen Fahrrad-Silhouette zeigt sich dagegen der niederländische Hersteller Vanmoof, der mit seinem Rad „N°3“ eine sportliche Neuinterpretation des klassischen Hollandrades im Programm führt. Die Mittelstange wurde bei diesem nach hinten und vorn verlängert, sodass sie an ihren beiden Enden LEDs für die Vorder- und Rückbeleuchtung des Rades aufnimmt. Gehört die Diagonale bisher stets zu den typischen Merkmalen eines Fahrrads, hat der dänische Designer Michael Ubbesen Jakobsen ganz auf den rechten Winkel gesetzt. Sein vom Bauhaus inspiriertes „BauBike“ lässt an eine rollende Version eines Gemäldes von Piet Mondrian denken und bringt seine Rolle als Unikat klar zur Geltung.

Auch wenn das Fahrrad in seiner Klimabilanz bereits als vorbildlich gilt, haben andere Gestalter auch bei den verwendeten Materialien neue Wege eingeschlagen. So setzt der Berliner Designer Arndt Menke mit seinem 2008 vorgestellten „Holzweg“-Rad auf eine Rahmenkonstruktion aus laminierten Pinienholz. Auch hier wurde das Design radikal vereinfacht, sodass zur Lenkung lediglich zwei hölzerne Röhren zum Einsatz kommen, die an ihren Enden einfach offen bleiben. Auf einen schnell nachwachsenden Rohstoff griff auch Ross Lovegrove mit seinem „Bamboo Bike“ für den dänischen Hersteller Biomega. Während für die länglichen Verbindungen des Rahmens Bambus zum Einsatz kam, sind die mechanisch beanspruchten Elemente nach wie vor aus Metall gefertigt, sodass gegenüber einem metallenen Zweirad in punkto Zuverlässigkeit keine Nachteile entstehen.

Radeln im Tweed

Dass das Fahrrad durchaus auch modisch verbindend sein kann, zeigt der seit 2009 in London stattfindende „Tweed Run“. Organisiert vom Freelance Art Director Ted Young-Ing, sind bei diesem nur Fahrer zugelassen, die in traditionellem, britischen Tweed gekleidet sind. Deren Devise: „Fahrradfahren mag gut für die Gesundheit sein, kann aber ernst zu nehmende Schäden an Ihrem Sinn für Geschmack hinterlassen“. Die Nachricht ist klar formuliert: Fahrradfahren ja, aber Schluss mit jener Multifunktionskleidung, die mit unerträglichen Farben und Schnitten ihre Träger lächerlich macht. Nach seinem Auftakt in London hat der „Tweed Run“ mittlerweile längst Ableger in New York, Toronto und Sydney gefunden, die Fahrradfahren demonstrativ zur Stilfrage erklären.

Noch weiter ging unterdessen der amerikanische Modedesigner Thom Browne während der Mailänder Männermodewoche Mitte Juni. Der New Yorker, dessen Anzüge zurzeit als die am besten geschnittenen der Männermode gelten, entwarf für die französisch-italienische Sportmarke Moncler Gamme Bleu eine gesamte Kollektion, die eigens zum Fahren auf dem Rad konzipiert wurde. Präsentiert wurde seine Entwürfe für den Sommer 2011 übrigens stilecht im Mailänder Velodrom, wo die Models ihre Runden nicht auf einem Laufsteg, sondern mit dem Rad entlang der historischen Rennbahn drehten. Sportwagen, soviel steht fest, waren gestern.


Ein Video der Modenschau von Moncler Gamme Bleu finden Sie auf unser Designlines-Facobook-Seite
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Links

Tweed Run

www.tweedrun,com

Francesco Bertelli

www.bertellibici.com/

Arndt Menke

www.arndtmenke.de

Vanmoof Bicycles

www.vanmoof.com

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