Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags
Rudolf Steiner als Architekt. Rudolf Steiner als Künstler. Rudolf Steiner als Designer. Eine groß angelegte Schau im Kunstmuseum Wolfsburg will den Philosophen „ent-steinern“ und sein gesamtes künstlerisches Schaffen zeigen – über Anthroposophie, Eurythmie oder Waldorfschulen hinaus. Letzte Woche wurde die Doppelausstellung zu Werk, Wirken und Leben Rudolf Steiners eröffnet, ergänzt um Positionen von namhaften zeitgenössischen Künstlern, Architekten und Designern. Designlines war vor Ort und tauchte ein in den Kosmos Rudolf Steiner.
Der zweistöckige Bau des Wolfsburger Kunstmuseums wird erstmals vollständig für ein Projekt bespielt: Während in der großen Halle im Erdgeschoss die vom Kunstmuseum Wolfsburg und vom Kunstmuseum Stuttgart konzipierte Ausstellung „Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart“ gezeigt wird, ist im Obergeschoss die vom Vitra Design Museum zusammengestellte Schau „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“ zu sehen.
Von Farbmassagen und schwangeren Wänden: Kunst der Gegenwart
Im offenen und von einer Galerie einsehbaren Erdgeschoss beschäftigen sich namhafte Gegenwartskünstler wie Helmut Federle, Katharina Grosse, Anish Kapoor, Olaf Nicolai und Olafur Eliasson in insgesamt 65 Arbeiten (Gemälde, Objekte, Installationen, Videoprojektionen) mit der ästhetischen und philosophischen Ideenwelt Rudolf Steiners. Dabei wird – so die Leitidee der Kuratoren Ulrike Groos und Markus Brüderlin – Steiner als erster Konzeptkünstler präsentiert. Von Anish Kapoor sind gleich mehrere Arbeiten zu sehen: „When I am pregnant“ – eine weiße Wand, aus der eine Wölbung, die mit einem schwangeren Bauch assoziiert werden kann, hervorkommt – sowie die Licht-Installation „Imagined Monochrome“. Hier kann sich der Besucher auf einer Liege massieren lassen und bei geschlossenen Augen verschiedene monochrome Farbfelder wahrnehmen. Damit erfährt er das Thema der Ausstellung – das Zusammenwirken von Körper und Geist, das Vorhandensein verschiedener Bewusstseinswelten – unmittelbar am eigenen Körper. In dieser illustren Zusammenstellung von Künstlern darf einer nicht fehlen: Joseph Beuys. 1971 berichtet er in einem Brief: „[dass] gerade von ihm (Steiner) ein Auftrag an mich erging, auf meine Weise den Menschen die Entfremdung und das Misstrauen gegenüber dem Übersinnlichen nach und nach wegzuräumen“.
Rudolf Steiner im Kosmos der Kunst-, Architektur- und Designgeschichte
Folgt man der Treppe in das erste Geschoss des Kunstmuseums – vorbei an den Skulpturen von Tony Cragg in der Galerie – erwartet einen die monografisch-kulturhistorisch orientierte Ausstellung „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“. Sie wurde von Mateo Kries vom Vitra Design Museum kuratiert. Anhand einer Fülle von Exponaten (Dokumente, Entwürfe, Architekturmodelle und Originalobjekte) behandelt die Ausstellung Steiners gestalterisches Wirken, das in einen zeithistorischen Kontext gestellt wird. Hier tauchen Künstler-, Designer- und Architektengrößen wie Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger, Antoni Gaudí, Frank Lloyd Wright und Henry van de Velde auf. Zudem wird Steiner als Impulsgeber für zeitgenössische Designer und Architekten präsentiert, insbesondere was eine Formgebung betrifft, bei der Rechtwinkligkeit passé ist und stattdessen kristalline oder organische Formen vorherrschen: Und so steht – als Beispiel für zeitgenössisches Design – in der Ausstellung Konstantin Grcics Chair One neben Erwan und Ronan Bouroullecs Stuhl Vegetal und Marcel Wanders’ Egg Vase.
Im Mittelpunkt der von Rudolf Steiner (1861-1925) begründeten Lehre der Anthroposophie steht der Zusammenhang Mensch – Natur – Kosmos. Steiners Ideen und Gedanken – die den Menschen ganzheitlich betrachten und thematisch von bildender und darstellender Kunst über Pädagogik bis hin zu ökologischer Landwirtschaft und Naturheilkunde reichen – legte er in einem, etwa 300 Bände umfassenden Werk nieder und hielt mehr als 5000 Vorträge darüber. Gleich zu Beginn des Ausstellungsrundgangs kann man dann auch hinter einer Glaswand unzählige Buchtitel Steiners betrachten. Darunter Werke wie „Der menschliche und der kosmische Gedanke“, „Die Geheimnisse der Schwelle“ oder „Weltsilvester und Neujahrsgedanke“.
Archiskulptur: das Goetheanum
Der Goethe-Forscher Rudolf Steiner hatte 1912 in Köln die Anthroposophische Gesellschaft gegründet und danach Dornach bei Basel zum Zentrum seiner Reform-Bewegung – die er im Übrigen nie als Dogma verstand – gemacht. Hier entstand in den zwanziger Jahren das architektonische Hauptwerk Steiners, das zweite Goetheanum, nachdem der Vorgängerbau aus dem Jahr 1913 abgebrannt war. Erstmals kam der Werkstoff Eisenbeton in einer solchen Maßstäblichkeit plastisch geformt zum Einsatz und diente späteren Architekten wie Hans Scharoun, Frank Gehry oder Zaha Hadid als Ideengeber. Das Festspielhaus Goetheanum besticht nicht nur durch Wandmalereien, mächtige Kuppelräume, die plastischen Gestaltung von Treppengeländern und Säulenkapitellen, sondern war eingebettet in ein Ensemble von Zweck- und Wohnbauten (Heizhaus, Verlagshaus, Haus Duldeck), die ebenfalls Steiner entwarf.
Organisch, handwerklich perfekt und farbenfroh: die Möbelentwürfe
Steiner gilt als ein Begründer der „organischen Architektur“, was auch auf seine Möbelentwürfe übertragen werden kann. Diese sind geprägt von Jugendstil, Kubismus und Expressionismus und atmen die Aufbruchsstimmung samt Experimentierfreude der Jahrhundertwende. Da verwundert es nicht, dass man in den Ausstellungsräumen auf Stühle von Henry van de Velde, kubistische Dosen, Bilderrahmen und Tischuhren, den „Elefantenrüsseltisch“ von Adolf Loos oder Karl Blossfeldts „Bronzemodelle von Pflanzen und Ranken“ trifft.
Der Besucher kann sich anhand von 45 Möbelstücken, 46 Modellen, 18 Skulpturen und 100 Originalzeichnungen und -plänen ein Bild von Steiners schöpferischem Œuvre machen. Und so sind beispielsweise die zusammen mit Hermann Ranzenberger entworfenen Lehnsessel, Nachtisch und Bett für Haus Duldeck (um 1917) im Ausstellungsraum „Wohn- und Zweckbauten“ oder der sogenannte „Meditationsstuhl“ (um 1910) im Ausstellungsraum „Das erste Goetheanum“ zu bestaunen. Steiners von Schreinern hervorragend ausgeführte Möbelentwürfe – er arbeitete übrigens ausschließlich in Holz – wie auch sein Wohnumfeld waren farbig konzipiert, verband er seelisches Erleben doch vorwiegend mit Gefühlen und diese wiederum mit Farben. „Man muss lernen in Farben und Formen zu denken“, so sagte Steiner einmal. Die von ihm entwickelten Pflanzenfarben sind heute zwar weitgehend verblasst, zeigen aber dort, wo sie noch vorhanden sind, eine überraschende Intensität. Neben der Farbgebung spielt die Analogie Mensch – Möbelstück eine wichtige Rolle in seinen Entwürfen. Möbelpartien, die ein Kopfstück aufweisen – und damit eine Analogie zum menschlichen Körper – werden besonders betont, indem beispielsweise die oberen Abschlüsse von Schränken plastisch-skulptural gestaltet werden.
Dreiklang: Kontext, Metamorphosen, Wirkung
Der Ausstellungsparcours von „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“ ist dreigeteilt: Während der erste Teil Steiner und sein Œuvre in seiner Zeit kontextualisiert und die Reformbewegung und -diskussion in die frühe Moderne verortet, zeigt der zweite, mit „Metamorphosen“ betitelte Ausstellungsteil Steiners entwerferische Arbeiten. Im dritten Abschnitt werden die Auswirkungen seines Werks auf andere Designer, Künstler und Architekten bis in die Gegenwart betrachtet.
In einem Raum trifft sich diese Ausstellung mit der Gegenwartsschau: Im Erdgeschoss des Kunstmuseums wurde ein Raum im Raum für Helmut Federle gestaltet. Während an den Wänden die Arbeiten des Schweizer Künstlers hängen, steht in der Mitte des kleinen Raums ein expressiver Tisch samt drei Stühlen aus dem Besitz des Künstlers. Diese hölzernen Dubach-Möbel aus den zwanziger Jahren gehören zu den schönsten Objekten der Ausstellung.
Weitere Informationen
Die Doppelausstellung „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“ und „Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart“ im Kunstmuseum Wolfsburg findet bis zum 3. Oktober 2010 statt. Danach wird sie im Kunstmuseum Stuttgart (05.02.2011 – 22.05.2011) und im Vitra Design Museum (September 2011 – März 2012) in Weil am Rhein gezeigt.
Zur Ausstellung sind zwei Kataloge erschienen:
Mateo Kries/Alexander von Vegesack (Hrsg.)
Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags
Vitra Design Museum 2010
75,00 Euro
Markus Brüderlin/Ulrike Groos (Hrsg.)
Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart
Köln (Dumont) 2010
39,95 Euro