Stories

Smarte Archaik – London Design Festival 2010

von Norman Kietzmann, 29.09.2010


Auf der Überholspur: Das London Design Festival hat nicht nur seinen festen Platz im Herbstkalender gefunden. Die überwiegend junge Designschau meistert zunehmend auch den Schritt von der trendigen Nachwuchsplattform zur professionellen Designbühne, die auf die Zugkraft auswärtiger Namen nicht mehr angewiesen ist. Wir waren vor Ort und haben die spannendsten Projekte eingefangen.



Die Logistik wurde zur Herausforderung: Gleich sechs Standorte konkurrierten diesmal um die Aufmerksamkeit der Besucher, die in der vergangenen Woche den Weg an die Themse unternommen hatten: Mit dem Clerkenwell-, Covent-Garden-, Brompton- oder Fitzrovia-Design-District, dem Shoreditch-Design-Triangle sowie The Dock an der Ladbroke Grove im Nordwesten der Stadt hatte sich eine breite Front aufgestellt, um die offizielle Messe 100% Design – die vom 23. bis 26. September im Earls Court stattfand – mit weit weniger glatten Präsentationen zu ergänzen. Diese bespielten nicht nur zahlreiche Off-Locations wie The Tramshed, ein ehemaliges Elektrizitätswerk des Shoreditch Tram System, das mit seinem industriellen Charme die passende Bühne für die Entwürfe junger Designer bot. Auch von offizieller Seite fand das Festival mit der ersten umfassenden Retrospektive von John Pawson im Design Museum einen wirkungsvollen Auftakt.

Pate des Minimalismus

Der britische Architekt, der sein Gespür für Minimalismus stets in alles andere als kalte Räume übersetzt, wird unter dem Titel Plain Space mit der gesamten Bandbreite seiner Arbeit präsentiert. Neben Modellen, Fotos und Videos seiner Gebäude und Innenräume sind ebenso seine Möbelentwürfe zu sehen, die auf eigens von Pawson für die Ausstellung entworfenen Tischen und Bänken gezeigt werden. Aus Mock-Ups entnommene Materialproben, die vor großformatigen Fotos auf flachen Sockeln ausgelegt sind, machen die Materialität von Pawsons Räumen greifbar und unterstreichen nicht zuletzt auch ihre sinnliche Qualität. Welche Rolle neben der Wahl der richtigen Materialien und Proportionen der Einsatz von Licht spielt, zeigt ein ebenfalls von Pawson für die Ausstellung konzipierter Raum, in dem die Besucher unter einem Gewölbe auf zwei lang gestreckten Bänken Platz nehmen können. Die Beleuchtung ist subtil in die Wände im Eingangsbereich sowie in die beiden seitlich platzierten Bänke integriert, während die Querseite in Richtung des Treppenhauses mit einer durchsichtigen Gaze verhangen ist. Der Raum wird auf diese Weise in ein fast schon befremdlich wirkendendes, weiches Licht gehüllt und erhält trotz seiner Kargheit einen warmen, wohnlichen Charakter.

Kalligrafische Möbel

Wird die Wohlfühlqualität von Pawsons Architektur auf diese Weise erfahrbar, steigert der japanische Designer Oki Sato den Minimalismus mit seiner Installation Thin Black Lines bis an den Rand der Zerbrechlichkeit. In den Räumen des Auktionshauses Phillips de Pury im Obergeschoss der Saatchi Gallery zeigen er und sein Tokio Designbüro Nendo eine Kollektion aus Stühlen, Kleiderständern, Tischen und freien Objekten. In Anlehnung an japanische Kalligrafie wurden diese durch den Einsatz von filigranen, metallenen Stäben in dünne, schwarze Linien aufgelöst. Ein Stuhl verwandelt sich zu einer Spirale, die einerseits die Anmutung eines Stuhls besitzt und doch je nach Perspektive in simple Striche zu zerfallen droht. Und bei einem Tisch aus drei unterschiedlich hohen, quadratischen Ebenen wurde jeweils eines der verbindenden Beine ausgelassen, so dass die Struktur optisch aus dem Gleichgewicht zu kippen droht. Keine Entwürfe für den harten Praxistest durch Kinder. Doch mit ihren beeindruckend leichten Silhouetten zeigen Nendo eine poetische wie radikale Kollektion, die übrigens trotz erster Bedenken auch statischer Belastung Stand hält.

Auf Moos gebettet

Archaischer Grundformen bedient sich ebenso das Londoner Designstudio Toogood, das seine Entwürfe in einem überdachten Innenhof an der Brompton Road präsentiert. Betreten wird die Installation durch eine Arbeit der italienischen Food-Designer Arabeschi di Latte, die auf rollbaren Wagen eine eindrucksvolle Auswahl an Waldpilzen auf Moos ausgebreitet haben und diese mithilfe von Lupen, die an winzigen Teleskoparmen über sie hinweg ragen, zu sonderbaren Gebilden vergrößern. In der Ausstellung selbst, die vom Londoner Käseladen La Frommagerie mit einem kleinen Pop-Up-Restaurant ergänzt wird, das mit verführerischen Gerüchen den Raum erfüllt, avanciert die Leuchte Element 1,2,3 zum It-Objekt dieses Designfestivals. Erhältlich in Holz, Messing oder Stein, verschmilzt sie jeweils einen Zylinder, einen Würfel und eine Kugel zu einer seltsam archaischen Skulptur, die russischen Konstruktivismus mit griechischer Antike in Verbindung setzt.

Unternehmerische Perspektive

Sind junge Designer seit jeher stark in London vertreten, von denen Büros wie Raw Edges oder Ok Studio längst für die etablierten Häuser in Mailand arbeiten, bleiben britische Hersteller im Designbereich vergleichsweise rar. Für Aufmerksamkeit sorgte im Vorfeld des Festivals die Mitteilung, wonach sich der Mitbegründer von Established & Sons, Alasdhair Willis, aus dem Unternehmen zurückzieht. Dass sich der Ehemann von Stella McCartney nun ganz seiner eigenen Beraterfirma Announcement widmet, wird den Glamour-Faktor des angesagten Möbellabels zwar leicht mindern. Doch der Entwicklung zu einer nicht nur kreativen, sondern ebenso wirtschaftlich erfolgreichen Marke sollte es nicht zwangsläufig im Weg stehen. Dass die Leitung trotz des Firmenmottos „british made“ nun in Hand des Italieners Maurizio Mussati gelangt, sollte nicht als schlechtes Omen gehandelt werden. Schließlich stecken auch hinter „made in Italy“ längst Ideen aus allen Teilen der Welt.

Ein klares Bekenntnis zum Standort London zeigt unterdessen Tom Dixon. Aus der temporären Designmesse, die er zum vergangenen Londoner Designfestival im Portobello Dock im Nordwesten von Notting Hill organisiert hat, ist nun eine permanente Ausstellung geworden, die sich als durchaus perspektivisch für die Stadt entpuppen könnte. Denn was London bisher noch gefehlt hat, ist eine zentrale Anlaufstation für junges Design auch außerhalb der Festivalzeit im September. Hat Tom Dixon sein eigenes Designbüro längst zu einer eigenständigen Marke geformt, das seine Entwürfe selbst produziert und vertreibt, weht nun auch von anderer Seite neuer Wind.

Frische Manufaktur


Als spannend könnte sich hierbei in den kommenden Jahren das Londoner Label Sé entpuppen. Gegründet 2008 vom Jungunternehmer Pavlo Schtakleff, wurde die zweite Kollektion zwar nicht von einem Briten, dafür jedoch vom umtriebigen und in London lebenden spanischen Designer Jaime Hayon entworfen. Deren Besonderheit: Die Möbel der über zwanzig Teile umfassenden Kollektion verbinden eine leicht konservative, behagliche Attitüde mit einer frischen, zeitgemäßen Formensprache. Hayon kombiniert bei dieser massive Polsterelemente, die mit ihren kokonartigen Schalen an die Panzer von Käfern erinnern, mit auffallend filigranen Füßen. Produziert werden die hochpreisigen Entwürfe von kleinen Handwerksbetrieben in Frankreich, die sonst auf die Herstellung handgefertigter Stilmöbel spezialisiert sind.

Roboter ohne Plan

Platzierte Hayon im vergangenen Jahr ein Schachspiel aus zwei Meter hohen Keramik-Spielfiguren auf dem Trafalgar Square, stammt der Entwurf der diesjährigen Installation Outrace vom deutsch-britischen Designerduo Clemens Weisshaar und Reed Kram. Die Designer montierten auf eine Platform unterhalb der Nelson-Säule acht Industrieroboter, die aus der Produktion von Audi stammen, und versahen deren „Finger“ mit LED-bestückten Leuchtstäben. Die Idee: Die Roboter sollen Buchstaben in den Nachthimmel schreiben, die ihnen via Internet von Nutzern aus aller Welt zugeschickt werden. Was bereits als Konzept reichlich bescheiden klingt, ist in der Realität an Plattheit kaum zu überbieten. Die Roboter bewegen sich lustlos und wirken als Ensemble eher wie eine Fabrik im Selbstzerstörungsmodus als ein überzeugendes Mittel der Kommunikation. Zu lesen sind die Botschaften für die Besucher direkt am Platz nur bedingt, denn es braucht schon eine Kamera im Langzeitbelichtungsmodus, um die müden Bewegungen der Maschinen in Schrift zu übersetzen. Würde einen Stromausfall an dieser Stelle niemand bedauern – die Arbeit mit ohnehin schon stattlichem Budget musste auch noch Tag und Nacht von umfangreichem Sicherheitspersonal bewacht werden – geht es an anderer Stelle deutlich elektrisierender zu.

Britische Ikonen

Zu seinen Ursprüngen bekennt sich nicht nur das britische Modelabel Burberry, das die Entwürfe seiner modischen Prorsum-Linie nicht wie in den vergangenen Jahren in Mailand, sondern bewusst an der Themse präsentiert. Vom vorletzten Tag der Londoner Modewoche, die sich knapp mit dem London Design Festival überschnitt, geht ein klares Zeichen aus, dem nicht nur der Trenchcoat-Klassiker, sondern ebenso der Autohersteller Mini folgt. Wurde die Premiere des neuen Mini 2001 in Paris gefeiert, präsentiert das deutsch-britische Unternehmen sein neues Konzeptfahrzeug „Scooter E“ nun bewusst in London. Dieses kommt nicht nur mit zwei Rädern aus, sondern benötigt lediglich eine Steckdose, um in der Stadt auf Touren zu kommen. Auch wenn die Umsetzung der Studie, die von BMW-Chefdesigner Adrian van Hooydonk in den Räumen eines Tonstudios in Soho präsentiert wird, derzeit noch ungewiss ist, liegt die Alltagstauglichkeit des leisen wie abgasfreien Stadtflitzers auf der Hand. Dass auch hierbei britischer Charme nicht schaden kann, zeigt die Farbgebung in traditionellem „British Racing Green“ oder einer weiteren Ausführung ganz im Stil der Mods. In London, das hat dieses Festival klar gezeigt, spielt längst auch im Design wieder die Musik.
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London Design Festival

www.londondesignfestival.com

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