Vom Hocker zum Zocker
Ob Alvar Aalto, Arne Jacobsen, Marco Zanuso oder Richard Sapper: Sie alle haben sich mit großer Leidenschaft dem Entwerfen von Kindermöbeln gewidmet. „Spielerisch Sitzen. Kinderstühle von Groß für Klein“ lautet der Titel der Ausstellung, die im Neuen Museum in Nürnberg in Kooperation mit der Neuen Sammlung eröffnet wurde. Zu sehen sind neben Designikonen aus Europa ebenso Raritäten aus Asien, Afrika und Südamerika, die von der Sammlerin Gisela Neuwald aus der Zeit des Biedermeier bis in die Gegenwart zusammengetragen wurden.
„Eigentlich wollte ich mir in einem Bekleidungsgeschäft ein Kleid kaufen. Stattdessen kam ich mit diesem Elefantenstuhl aus dem Laden“, beschreibt Gisela Neuwald eine typische Situation, wie ihre Sammlerleidenschaft sie im Alltag plötzlich überrannte. Erworben hat sie ihre Fundstücke längst nicht nur auf Auktionen, sondern ebenso häufig auf Reisen, und nahm sie schließlich als Handgepäck im Flugzeug mit zu ihrer Münchner Wohnung. Dass sie den Fokus ihrer Sammlung ganz auf Möbel für die Kleinen legte, ist eng mit ihrer eigenen Biografie verbunden.
Als ihre Familie 1944 vom brandenburgischen Friesack nach Vorsfelde in der Nähe von Wolfsburg floh, musste sie sämtliche Möbel zurücklassen. Für die damals Fünfjährige kein einfaches Unterfangen, musste sie doch auf ihren geliebten Kinderstuhl verzichten. Im Haus ihrer Großmutter begann für sie eine neue Welt. Um bei Tisch in angemessener Höhe sitzen zu können, thronte sie wie eine Prinzessin auf der Erbse auf einem Haufen übereinander gestapelter Kissen. Für Kinder eine seltsam bedrohliche Kulisse, in dieser Haltung nicht spielend leicht den Turm wieder zum Einsturz zu bringen und stattdessen kerzengerade auf dem wackligen Kissenbündel sitzen zu müssen.
Frage der Perspektive
Der Kinderstuhl mitsamt dem kleinen Tisch, den sie als Mädchen zurückließ, blieb ihr auch weiterhin in Erinnerung. Schließlich sind Kindermöbel alles andere als Miniaturen der Erwachsenenwelt: Sie geben Kindern die Geborgenheit, sich nicht wie Fremdkörper inmitten all der überproportionierten Dinge des Alltags fühlen zu müssen, und erhalten eine gleichberechtigte Position. „Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl ist kein Stuhl, sondern Kutschbock, Segelboot, Wippe, Leiter, Rednerpodest, Wurfgeschoss, Pferd, Puppenbett, Königsthron, Verkaufstheke, Höhle – wenn er einem Kind gehört“, bringt Florian Hufnagl, Chefkurator der Neuen Sammlung, das Spiel mit den Funktionen auf den Punkt.
„Kinder machen keine Spiele, sondern wissenschaftliche Untersuchungen. Sie wollen durch das Spielen die Welt verstehen. Ich glaube, man müsste all die Nobelpreise dieser Welt den Kindern verleihen, weil sie intelligenter sind als Einstein. Ohne nachzudenken verstehen sie selbst die komplizierten Dinge“, gesteht Enzo Mari, der bereits Ende der fünfziger Jahre seine ersten Kindermöbel entworfen hat und in der Nürnberger Ausstellung mit seinem Stuhl Seggiolina Pop (2005) aus der Kinderkollektion Me Too von Magis vertreten ist.
Innovation im Kinderzimmer
Es ist kein Zufall, dass die Sammlung Gisela Neuwalds eine Spanne von rund 200 Jahren umfasst, sind Kindermöbel doch ein vergleichsweise junges Thema. Fanden Möbel für Kleinkinder wie die Wiege oder der Laufstall schon frühzeitig Verwendung, haben sich Kindermöbel nach unserem heutigen Verständnis erst mit der Aufklärung um 1800 in den bürgerlichen Salons des Biedermeier etabliert. Die industrielle Fertigung von Kindermöbeln begann 1866, als die Gebrüder Thonet in Wien eine Kollektion von eigens auf Kinder zugeschnittenen Möbeln in ihr Sortiment aufnahmen. Auch die Gestalter der Wiener Werkstätten wie Josef Hoffmann oder Joseph Olbrich entwarfen um 1900 Kindermöbel, während Marcel Breuer, Walter Gropius und Alma Siedhoff-Buscher am Bauhaus das Thema zum selbstverständlichen Bestandteil der Alltagskultur erklärten.
Dass Kindermöbel sogar Designgeschichte schreiben können, haben Richard Sapper und Marco Zanuso mit ihrem Stapelstuhl K1340 für Kartell unter Beweis gestellt. Der 1964 vorgestellte Entwurf ist der weltweit erste Stuhl, der vollständig aus Kunststoff gefertigt wurde. „Wir hatten einen Stuhl geschaffen, der zugleich ein Spielzeug zur Stimulierung der Phantasie des Kindes war. Er war sowohl unzerstörbar als auch so weich, dass niemand sich damit verletzten konnte“, beschrieb Marco Zanuso die Vorzüge des Stuhls, der in leuchtendem Rot, Blau, Gelb und Weiß seine spielerische Komponente unterstrich.
Freiheit der Form
Auch formell können Kindermöbel aus dem Kanon der Erwachsenenmöbel ausscheren, wie Charles und Ray Eames mit ihrem 1945 vorgestellten Elephanten-Hocker aus gebogenem Sperrholz bewiesen haben. Noch weiter ging Luigi Colani mit seiner Hocker-Tisch-Kombination Zocker (1970) für Kinderlübke, der zum Sitzen, Hocken, Lümmeln und Spielen einlud und damit längst nicht nur von Kindern in Beschlag genommen wurde, sondern ebenso von Erwachsenen, wie Colani selbst auf einer Bilderserie vorführte. Kindermöbel erfüllen auf diese Weise noch eine weitere Funktion: Sie erlauben auch großen Kindern, ihren Spieltrieb wieder offen auszuleben, der mitunter sogar am Arbeitsplatz wieder erwünscht ist.
Denn Bewegung, so die übereinstimmende Meinung von Ergonomie-Experten, fördert die Rückenmuskulatur und beugt somit typischen Bürokrankheiten besser vor als die Einengung in einen starres Sitzkorsett. Ob der Drehstuhl ON von Wilkhahn mit seiner dreidimensional verformbaren Rückenlehne oder der kippelnde Kunststoffstuhl Tip-Ton von Barber Osgerby für Vitra: Sie zeigen, dass Kindermöbel weit mehr als niedliche Stühlchen für die Kleinen sind, sondern vielmehr ein Experimentierfeld für die Lebensgewohnheiten der Großen.
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