Wohnratgeber 4: Die exponierte Wohnung
Wohnen ist Privatsache? Keineswegs. Wenn es nach den Ausstellern der Mailänder und Kölner Möbelmessen geht, sind die eigenen vier Wände längst zu einer Bühne geworden. Nicht nur das alltägliche Leben wird auf ihnen in Szene gesetzt. Der Wohnraum gleicht begehbaren Schaukästen, in denen Reiseerinnerungen, Kunstwerke und Fundstücke von Antik- und Flohmärkten zu stimmungsvollen Arrangements verdichtet werden. Willkommen in einer Welt, die alles und jeden in Akteure verwandelt.
Die Zeiten ändern sich, sang schon Bob Dylan mit seiner unverwechselbaren Nasalität. Doch wenn die Dinge auch noch so sehr nach vorne schreiten, die Zeit springt mitunter wieder ein Stück zurück. Der Rückzug ins Private mag zwar als gegenwärtiger Trend erscheinen, aber dahinter verbirgt sich ein ziemlich alter Hut. Wer vor einhundert Jahren seine Freunde treffen wollte, tat dies mit Vorliebe in den eigenen vier Wänden. Und das aus gutem Grund. Zum einen fiel die gastronomische Vielfalt deutlich bescheidener aus als heute. Zum anderen unterstrich eine Einladung die Freundschaft und erfüllte dabei noch eine weitere Funktion.
Während die Gäste im Salon beköstigt wurden, konnte ihnen die Einrichtung mitsamt all den Kunstwerken, Fundstücken und Preziosen vor Augen geführt werden. Dass da Kitsch und geschmackliche Entgleisungen darunter waren, stand außer Frage. Und so verwundert es auch nicht, dass die Moderne den Wohnraum alsbald zur privaten Angelegenheit erklärte. Um seine Mitmenschen vor kuriosen Stilblüten zu bewahren, wurde fortan auswärts gegessen und getrunken – ein Umstand, dem mit umso exhibitionistischen Interieurs entgegengewirkt werden soll.
Der Schrank
„Alle Räume im Haus sind für mich wie kleine Theater. Und die Menschen, die in dem Haus wohnen, sind die Schauspieler in diesem Stück – zusammen mit all den Objekten, die sie umgeben“, beschrieb Alessandro Mendini einst seine Gestaltungsauffassung. Auch unter den heutigen Designern finden sich zahlreiche Jünger des postmodernen Altmeisters, darunter der umtriebige New Yorker Ron Gilad. Sein 14/28 Cupboard für den italienischen Möbelhersteller Adele-C interpretiert die Kommode als Mischung aus Showbühne und Puppenstube. Eingefasst von einem puristischen Rahmen, balancieren miniaturisierte Thonet 214-Stühle nussbaumfarbene oder orangene Ablagen. An die Stelle des klassischen Theater-Vorhanges tritt ein geschlossenes Fach, das mit zweier Flügeltüren geöffnet werden kann. „Ich habe mir die Freiheit genommen, mit extremer Ironie und Größe zu spielen und dabei die Balance zwischen dem Nützlichen und dem Abstrakten beizubehalten“, erklärt Gilad seinen Entwurf. Selbst die banalsten Objekte werden auf diese Weise zu Requisiten für einen Film, dessen Drehbuch noch geschrieben werden muss.
Das Regal
Die Dinge bewusst zur Schau zu stellen, ist jedoch weit mehr als nur Spätfolge des postmodernen Eklektizismus. Es ist vor allem die Technologie, die den Sinn und Zweck der Einrichtung neu justiert hat. Wurde das Wohnzimmer noch vor wenigen Jahren mit massiven Bücherwänden und schwergewichtigen Plattensammlungen als raumfüllende Wissens- und Klangbibliothek zelebriert, ist es dieser Aufgabe überdrüssig geworden. In Zeiten von mp3 und E-Books hat das Regal zwar nicht gleich ausgedient. Doch es muss sich neue Aufgaben und Anwendungen suchen, wie das System Bookless von Interlübke beweist. Der Entwurf von Gino Carollo und René Chyba sorgt mit gläsernen Ablagen für Transparenz und wird mithilfe einer rückseitigen LED-Beleuchtung vor der Wand zum Schweben gebracht. Anstatt mit Büchern wird das Regal mit Schmuckstücken, Souvenirs und wohl dosierten Skurilitäten zum Leben erweckt.
Wie die Idee des Setzkastens auf frische Weise interpretiert werden kann, unterstreicht die chinesisch-niederländische Designerin Ka-Lai Chan mit ihrem SheLLf für Kristalia. Das Möbel wirkt wie ein Cluster aus weißen Kuben, die aus der Wand herauszuwachsen scheinen und für kleine und größere Objekte den passenden szenografischen Rahmen bieten. Dass auch Magazine und Bücher einen wirkungsvollen Auftritt meistern, bringt die junge österreichische Designerin Christel Helene Schmidt auf den Punkt. Covershow heißt ihr Entwurf für Schönbuch, der Zeitschriftencover hinter transparenten oder farbigen Fronten aus Acrylglas in Szene setzt. Durch die Kombination von jeweils drei Kuben wirkt das Display selbst im ungenutzten Zustand nicht leer, sondern entfaltet eine reliefartige Wirkung an der Wand.
Das Bett
Einen bühnenreifen Auftritt garantieren die Brüder Humberto und Fernando Campana. Passend zu ihrem „haarigen“ Schrank Cabana (2010) haben sie nun für Edra das dazugehörige Bett vorgestellt. Auch das trägt einen blickdichten Pony aus Bastschnüren, die mithilfe von Kordeln an allen vier Bettkanten zu Zöpfen gebunden werden können. Der Charme des Entwurfs liegt in seinem Wechselspiel aus Verbergen und Entblößen. Gleicht das Bett im geschlossenen Zustand einem kryptischen Solitär, der seine Funktion nicht preisgibt, entfalten die geöffneten „Vorhänge“ eine umso einladender Geste. Ein weiterer Vorteil: Gegenüber Mücken und anderen Plagegeistern bietet die haarige Aufmachung eine wirkungsvolle Abwehr.
Der Tisch
Das Prinzip des Setzkastens beschränkt sich nicht allein auf die Wände, sondern wird mithilfe von Beistelltischen bis in die Mitte des Raums getragen. Spielerisch zeigt sich das Modell Aoyama, das der französische Designer Noé Duchaufour Lawrence für Ligne Roset entwarf. Der Name bedeutet im Japanischen „blauer Berg“ und steht zugleich für jenen Stadtteil von Tokio, wo Tempel und glitzernde Konsumwelt direkt aufeinandertreffen. Der gläserne Tisch verfügt über drei runde Ablagen, die sich gegenseitig überlagern. Indem das hellblaue Glas in den Schnittmengen eine dunklere Färbung annimmt, setzt es einen grafischen Akzent im Raum.
Einen Sprung zwischen drei verschiedenen Höhenstufen vollzieht der gläserne Couchtisch Paesaggi von Silvana Angeletti und Daniele Ruzza für Fiam. Die einzelnen Plateaus verfügen über weich abgerundete Ecken und sind in ihrer Mitte dunkelgrau, graubraun und graubeige bemalt. Vasen und Objekte können darauf zu stimmungsvollen Arrangements verdichtet werden, die mit den Farben der Untergründe korrespondieren oder ihnen entgegentreten. Je nach Perspektive überschneiden sich die Ebenen auf andere Weise und sorgen für einen wirkungsvollen Schattenwurf auf dem Boden.
Das Sofa
Die Formensprache der Polstermöbel bleibt derweil bedeckt. Schließlich stehen nicht sie im Mittelpunkt, sondern die Dinge um sie herum. Das Sofa Bahir, das der Schweizer Designer Jörg Boner für Cor entworfen hat, wirkt wie eine Mischung aus Kissen und Sitzlandschaft. Weder die Sitzhaltung ist genau vorgeschrieben noch die Anzahl der Personen, die auf der gepolsterten Liegewiese Platz nehmen können. Das Sofa gleicht einer multisensoriellen Kommandozentrale, auf der gelesen, Musik gehört, Fernsehen geschaut oder die Dinge im Raum betrachtet werden. Auch Allianzen mit anderen Produktkategorien sind damit nicht ausgeschlossen. So verschmolz Philippe Starck sein Sofa MyWorld für Cassina mit einem erhöhten Tisch, auf dem ein Laptop in idealer Arbeitshöhe abgestellt werden kann. An der anderen Seite des Sofas können Bücher und Zeitschriften in einem hölzernen Schrankmodul abgelegt werden. Versteckte Steckdosen sorgen dafür, dass dem geliebten Technikspielzeug nicht unverhofft der Strom ausgeht.
Sessel und Stühle
Während Sofas den Raum als großformatige Flächen bespielen, werden Sessel und Stühle auch weiterhin als Solitäre wahrgenommen. Der Sessel Grand Repos, den Antonio Citterio für Vitra entworfen hat, ist ein schützender Kokon mit einem dazugehörigen Ottomanen. Für besonderen Komfort sorgt neben einem hohen Rücken und breiten Armlehnen eine Synchronmechanik, die im Inneren des Polsters versteckt wurde. In Abstimmung auf das Gewicht des jeweiligen Benutzers kann der Sessel stufenlos von einer aufrechten Sitzposition zu einer zurückgelehnten Haltung arrangiert werden. Voluminöse „Ohren“ filtern die Geräusche aus der Umgebung und erzeugen eine Ruhepol inmitten des Raumes.
Lässt die äußere Erscheinung der Sessel nicht ohne Grund an gemütliche Dickhäuter denken, zeigen sich die Stühle deutlich agiler und filigraner. Pila heißt der erste Holzstuhl, den Ronan und Erwan Bouroullec für Magis entworfen haben. Die Konstruktion des Möbels mit einer Sitzschale und Rückenlehne aus plastisch verformten Eschenschichtholz, den Beinen aus massiver Esche sowie Verbindungselementen aus Aluminium-Druckguss ist klar erkennbar. Trotz seiner leichten, zurückgenommenen Erscheinung bringt der Stuhl seine Machart offen zum Ausdruck. Der Exhibitionismus ist an dieser Stelle nicht gleichbedeutend mit Aggressivität. Er kann die Bühne des Wohnens auch auf subtile Weise erklimmen und mit weniger freizügigen Objekten eine stimmige Liaison eingehen.
Bisher in der Reihe erschienen:
Wohnratgeber Teil 1: Die flexible Wohnung
Wohnratgeber Teil 2: Garten und Terrasse
Wohnratgeber Teil 3: Die kleine Wohnung