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Conceptual Substance

Zu Besuch bei fünf crossdisziplinär arbeitenden Studios in Berlin

Neben Metropolen wie Kopenhagen, New York und Seoul genießt Berlin ebenfalls den Ruf einer besonderen Produktionsstätte für Kulturschaffende. Die intensive Auseinandersetzung mit Kultur und Gesellschaft spiegelt sich auch in den Disziplinen Design, Architektur und Kunst wider. Wir stellen Ihnen hier fünf crossdisziplinär arbeitende Studios aus der deutschen Hauptstadt vor.

von Tina Roeder, 30.10.2023

Ausgebildet als Designer*innen oder Künstler*innen teilen die fünf Berliner Studios Pegasus Product, Federico Maddalozzo, Illya Goldman Gubin, Valerie Stahl von Stromberg und Atelier OBEN einen disziplinübergreifenden, zeitgenössischen Arbeits- und Gestaltungsansatz sowie das Bestreben, bestehende Strukturen und Systeme zu hinterfragen. Sie alle haben, einzigartig und exemplarisch, ihren Platz im kritischen Diskurs, sind Teil einer kulturellen und sozialen Entwicklung hin zu einer wirklich vielfältigen, integrativen und hybriden Gesellschaft und Lebensweise.

Ready-gemaketes von Pegasus Product
In komplexen Produktionen – ortsspezifischen Performances und partizipatorischen Installationen – widmet sich das Künstlerkollektiv Pegasus Product seit vier Jahren „der abgebrochenen, offenen Kante, dem zivilisatorischen Grind und schafft Artefakte und Requisiten einer zeitgenössischen Mythologie als Linse zur Betrachtung des eigenen Daseins und als Werkzeug zur eigenen Verortung“. So beschreiben Gernot Seeliger (*1982), Dargelos Kersten (*1988) und Anton Peitersen (*1986) ihre Arbeitsweise. In ihren Arbeiten verwenden sie nur Material, das von auf der Straße entsorgten Möbeln („das uringetränkte Billy-Regal“) stammt. So werden aus banalen Alltagsgegenständen neue Objekte hergestellt. Das Hauptmaterial ist Pressspan. Ihr augenzwinkernder Ansatz, erkennbar an Titeln wie Unbequeames Chair, Le Brotkorbusier oder Mikrochair (Memphcis+), hat auch eine ernsthafte Dimension. So werfen sie relevante kulturelle und gesellschaftspolitische Fragen zu Nützlichkeit (Funktion), Design, Kunst, Geld und Arbeit auf, diskutieren sie und setzen sich kritisch mit Werbung und Aspekten des Branding, ja sogar der Selbstvermarktung oder Selbstheilung, auseinander. In Dargelos Kerstens Worten: „Es muss nicht immer so krass ernst sein, wenn etwas aufrichtig ist.“ Oder wie Gernot Seeliger es salopp formuliert: „Es ist lustig und es geht um was. Beides.“

A Piece of Furniture von Federico Maddalozzo
Federico Maddalozzo (*1978) ist ein in Berlin lebender Künstler und Mitbegründer der Online-Plattform aPoF (a Piece of Furniture), die er im Jahr 2020 zusammen mit seinem Künstlerfreund Davide Zucco initiiert hat. Entstanden aus dem gemeinsamen Interesse vieler Künstler*innen, ihre eigenen Möbel zu bauen, konzentriert sich das Projekt darauf zu untersuchen, wie Kunst, Möbel und Wohnen einander beeinflussen. In seiner eigenen Arbeit lässt sich Maddalozzo von der Beobachtung alltäglicher Formen und Phänomene inspirieren – so auch bei der Auftragsarbeit Door Handles für die Glastüren im KX Workshop der Berliner Agentur Kemmler Kemmler. Die Inspiration für die Türgriffe stammt von Silikon-Klebespuren, die sichtbar werden, wenn eine zerbrochene Fensterscheibe durch das Ankleben einer weiteren Glasscheibe vorübergehend gesichert wird. Die dabei zufällig entstehenden Konturen verwendete Maddalozzo unverändert für sein Design. „Ich interessiere mich für Produktionsfehler und dafür, wie industrielle Produkte ihre Form verändern, zum Beispiel durch Abnutzung oder nach einem Autounfall“, sagt er. Letzteres wird ersichtlich in Sundays, einer Serie von Skulpturen, die unter Verwendung eines eingedellten Kotflügels und einer Car Wrapping-Folie Maddalozzos früheres Umfeld reflektieren: Aufgewachsen ist er in den nordöstlichen Provinzen Italiens, inmitten einer Umgebung, die geprägt war von Karosseriewerkstätten, sonntäglichen Tuning-Treffen und Häusern mit Garagen und Gärten, in denen Autos gewaschen wurden.

Geschichtenensembles bei Valerie Stahl von Stromberg
Valerie Stahl von Stromberg (*1976) ist eine in Berlin lebende Künstlerin. Obwohl sie ursprünglich Grafikdesign studiert hat, fühlte sie sich von Anfang an der Konzeptkunst zugeneigt. Ihr gestalterischer Ansatz ist multidimensional, aber immer noch stark mit dem traditionellen Medium der Fotografie verbunden. Nach dem Studium in London und bevor sie mehrere Jahre in Shanghai verbrachte, sammelte sie als Assistentin von Wolfgang Tillmans erste Erfahrungen in der Kunstwelt. Ihre Praxis zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, verschiedene künstlerische Disziplinen zu verbinden. Mit ihren Installationen, Skulpturen und fotografischen Konzeptionen lädt sie dazu ein, sich sowohl auf intellektueller als auch auf sensorischer Ebene mit ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Dabei behandelt sie verschiedene soziale und politische Themen, die auch globale humanitäre Bemühungen einschließen. Diese Mischung ermöglicht es ihr, Grenzen zu erforschen, zu erweitern und zu überschreiten, während sie gleichzeitig auf den Grundlagen der traditionellen Fotografie aufbaut. Thematisch angesiedelt zwischen „Haustüren, Schlüsselindustrien und maritimen Grenzen“ (Zitat ihrer Galeristin Sandra Bürgel) und die Komplexität der Welt betrachtend, führt Stahl von Stromberg einen kritischen Diskurs.

Tragende Kartons von Illya Goldman Gubin
Illya Goldman Gubin (*1992) ist ein multidisziplinärer Künstler und Autodidakt mit einer starken Affinität zu Mode und Konzeptkunst. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich – theoretisch wie praktisch – mit Volumen und räumlicher Qualität. Er arbeitet mit dem japanischen Konzept „Ichi-go, ichi-e“, was so viel bedeutet wie: Ein Mal, eine Begegnung. Das soll uns an die vergängliche Natur von allem um uns herum erinnern. Sein Konzept ähnelt der Vorstellung, dass man nie zweimal in denselben See steigen kann, weil das Wasser immer in Bewegung ist und den See verändert. Dieser Ansatz zeigt sich in der Hockerserie Karton, einem Schlüsselstück unter seinen Werken. Durch das Gießen von Epoxidharz auf ausrangierte Kartons und das Hinzufügen von Glasfaser formt Gold Gubin Objekte, die als Möbelstücke dienen. Transport und Bewegung von Pappkartons beziehen sich auf einen Zustand des Wandels. „Was wir einst trugen, kann uns jetzt tragen“, erklärt er. Goldman Gubins eher düstere, existenzialistische und doch intime Installationen erforschen die Zweideutigkeiten des modernen Lebens, herausgefordert durch die sich schnell verändernden Bedingungen unserer Zeit, und schaffen vielschichtige Reflexionen der alltäglichen Wahrnehmung, die erst durch menschliche Interaktion vervollständigt werden.

Kollektive Kollaborationen im Atelier OBEN
In Lisa Ertels Worten: „OBEN ist eine Ateliergemeinschaft, wir sind 12 Personen – verschiedene Praxen oder Fachkenntnisse kommen hier zusammen.“ Namentlich sind das die Produktdesigner*innen Anne-Sophie Oberkrome und Lisa Ertel (Studio Œ), Lukas Marstaller (BNAG), Theodor Hillmann und Lizzy Ellbrück, Studio LOB (Jannis Zell und Phil Zumbruch), die hauptsächlich Grafikdesign machen, sowie Marcel Strauß, Stefan Wölfe und Benjamin Bartosch, der Fotograf Peter Oliver Wolff und der Interiordesigner Michael Bernard-Boos. Etwa die Hälfte der Ateliergemeinschaft kennt sich von der Uni und hat ungefähr zur gleichen Zeit an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe studiert. „Im Grunde sind wir einfach ein großer Freundeskreis“, erklärt Ertel. „Wir haben superviele Sachen aus eigenem Antrieb gemacht, einfach weil wir total Bock drauf hatten.“ Auf kurzem Wege arbeitet Atelier OBEN oft gemeinsam an Projekten, bei denen alles benötigt wird – vom Produkt im Raum über Fotografie und Grafik bis hin zur Website. Auffällig ist, wie schnell sie sich immer wieder neu zusammenwürfeln und so mit Leichtigkeit ad hoc und agil reagieren können. Studio Œ ist beispielsweise Teil verschiedener Kollektive wie dem multidisziplinären FAN Collective und Many-to-Many. Gemeinsam und häufig partizipativ erproben sie alternative Arbeits- und Präsentationsformen und realisieren Projekte an der Schnittstelle von Kunst und Design. Ihre Entwürfe verbildlichen Gedanken zu Phänomenen unserer Zeit, basierend auf Beobachtungen in ihrer unmittelbaren Umgebung, die sich in alltäglichen Gegenständen manifestieren – angesiedelt im Wechselspiel zwischen analogem und digitalem Raum sowie Kultur und Natur.

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Tina Roeder

Tina Roeder ist Designerin, Künstlerin und Kuratorin in Berlin. Ein Highlight während des diesjährigen Gallery Weekends war ihre Ausstellung Conceptual Substance im Eternithaus. Der Begriff „Conceptual Substance“ stammt von einem kuratorischen Format, das von ihr im Jahr 2009 entwickelt wurde und als crossdisziplinäre Vermittlung von zeitgenössischen Positionen aus Kunst, Design und Architektur zu verstehen ist. Der Begriff beschreibt die konzeptuelle Herangehensweise in der Gestaltung, die Typologien neu definiert und die Realität untersucht. Dabei steht die Idee oder Geschichte hinter den Möbelstücken und Skulpturen im Vordergrund, ihr folgt die Form.

www.tinaroeder.com

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