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Form follows availability

Sven Urselmann über kreislauffähige Einrichtungskonzepte

Sven Urselmann fordert die Transformation im Innenausbau. Mit seinem Düsseldorfer Büro Urselmann Interior und einem neunköpfigen, multidisziplinären Team aus Handwerker*innen, Innenarchitekt*innen und Architekt*innen forciert er neue Wege. Sein Ziel sind 0-Emissionen-Interiors. Dies erfordere ein kompromissloses Umdenken in der Planung und führe zu einer Ästhetik, die er als „handwerkliches Heilen“ bezeichnet, wie er im Interview erzählt.

von Kathrin Spohr, 10.06.2024

Du bist 2020 mit der Idee, kreislauffähige Einrichtungs- und Mieterausbaukonzepte zu schaffen, an den Start gegangen. Wie kam es dazu?
Ich bin Tischler, habe lange als Projektleiter im Innenausbau gearbeitet. Ich kenne mich bestens aus mit den verschiedenen Gewerken. Irgendwann dachte ich, in unserem Bereich muss Veränderung her. Der Bausektor verursacht 38% aller Emissionen. Als Unternehmer trägt man Verantwortung. 2019 bin ich mit meinem damaligen Büro gemeinsam mit Fridays for Future auf die Straße gegangen. Wir haben uns von Grund auf hinterfragt: Ist Innenarchitektur überhaupt noch sinnstiftend, können wir das Verschwenden von Ressourcen und Materialien weiter verantworten? Oder sollten wir lieber Bäume pflanzen?

Du bist beim Innenausbau geblieben und hast Urselmann Interiors gegründet. Warum?
Wir sind auf Cradle-to-Cradle gestoßen. Bei diesem Ansatz einer durchgängigen Kreislaufwirtschaft ist der Groschen gefallen. Wir mussten das Prinzip auf unseren Bereich übertragen. Das war eine Lernreise von zwei Jahren. So haben wir unser Circular Office entwickelt, wo wir heute arbeiten. Hier zeigen wir, wie wir uns die Zukunft der Innenarchitektur vorstellen. Unser Büro wurde direkt für einen Sustainability Award nominiert!

Hast Du ein Beispiel?
Wir haben hier einen hundert Jahre alten Terrazzoboden, teilweise mit krassen Abbruchkanten. Normalerweise nicht nutzbar. Wir haben die fehlenden Stücke mit Holz ausgeglichen. Ein Schaden, der mit höchster Handwerkskunst bestens repariert wurde. Genau darin liegt die zukunftsgerichtete Ästhetik. Vielleicht spielt die japanische Tradition des Kintsugi dabei auch eine Rolle.

Kurz zusammengefasst: Wofür steht Ihr?
Für die Transformation im Innenausbau: „The race to 0“ (António Guterres, Chefdiplomat der Vereinten Nationen, Anm. d. Red.) ist unser Etappenziel. Danach muss es regenerativ werden. Erst einmal gilt für uns: Müll ist grundsätzlich ein Designfehler! Wir verwerten alle Materialien weiter, die nicht giftig sind. Wir arbeiten nach dem Ansatz „Design & Build“ von der Planung bis zur Umsetzung ganzheitlich aus einer Hand. ESG (Environmental Social Governance) ist bei uns kein Add-on, sondern Kern unseres Cradle-to-Cradle-Designs.

Wie viel CO2 lässt sich durch die Wiederverwendung von Baumaterialien einsparen? Wie sind Deine Erfahrungswerte?
Für den Hauptsitz der Abfallwirtschaftsbetriebe Münster (AWM) etwa haben wir 500 alte Stuhlsitzflächen als Wandverkleidung für eine 250 Quadratmeter große Fläche im Treppenhaus umgenutzt. Unsere Bauweise hat dort 52 Kilogramm CO2 pro Quadratmeter gegenüber konventioneller Bauweise eingespart. Das sind insgesamt 13 Tonnen CO2. Wenn man bedenkt, wie viele hunderttausende Quadratmeter von Büroflächen jedes Jahr saniert oder gebaut werden, dann wird schnell klar, dass hier bei den Emissionseinsparungen ein riesiges Potenzial liegt! In der EU werden jedes Jahr 10 Millionen Tonnen Büromöbel entsorgt. Das sind gigantische Mengen! Was kann man daraus machen? Es ist eine große Aufgabe für alle, die anpacken, umdenken, aufarbeiten, flexibel entwerfen, reparieren et cetera können.

„Ernten für die Bauwende“ – unter diesem Motto arbeitet Ihr mit dem Berliner Start-up Concular zusammen. Euer Ziel ist die serielle Weiterverwendung von gebrauchten Baumaterialien. Wie funktioniert das konkret?
Concular hat das Urban Mining Hub in Berlin eröffnet, eine Lagerfläche mit großer Auswahl an zirkulären Baumaterialien – von gebrauchten Leuchten bis zu Außenfassaden. Solch ein Lager mit angeschlossenen Handwerkerhöfen entwickeln wir auch gemeinsam für Düsseldorf. Diese Lager-Hubs sind essentiell für die zirkuläre Innenarchitektur.

Inwiefern?
Wir handeln nach dem Ansatz „Form follows availability“. Sobald es Lager gibt, können wir Materialien dort einkaufen, wenn sie verfügbar sind und diese bei uns bevorraten. Häufig nötige Baustoffe wie etwa Doppelböden, Massivholzplatten, Türen, Glastrennwandelemente oder auch Waschbecken. Das ist für den Planungsprozess vorteilhaft: So kann man gewisse Stoffe mit in eine Ausschreibung bringen. Die Bemaßungen dieser Materialien kann man natürlich nicht, wie sonst üblich, wählen. Da ist dann das Design gefragt, immer ein bisschen flexibel zu bleiben und Lösungen zu finden.

Noch fehlen die Lager-Hubs in Eurer Nähe. Wie sieht die Materialbeschaffung aktuell aus?
Wir holen die Materialien direkt an den Baustellen ab. Unsere Planer*innen sind bei der „Materialernte“ häufig dabei. Wir schauen uns die spezifischen Materialien sehr genau an, beurteilen, ordnen ein.

Worin siehst Du die Herausforderung hinsichtlich kreislauffähiger Innenausbauten?
Bevor wir anfangen zu gestalten, müssen wir schauen: Woher bekommen wir welche Materialien? Wie können wir diese zu dem Gewünschten umfunktionieren oder überhaupt für neue Zwecke brauchbar machen? Und wie können wir dies ästhetisch und handwerklich anspruchsvoll umsetzen? Es braucht, wie gesagt, flexible Denkweisen, kreative Umnutzungsideen, herausragendes Design, beste handwerkliche Qualitäten inklusive einem großen Verständnis für Materialien und ihre technische Bearbeitung.

Haben Eure Bauherr*innen ein Problem, wenn Ihr mit gebrauchten Materialien ankommt?
Kostentechnisch gesehen liegen unsere Interior-Konzepte auf demselben Niveau wie konventionelle Lösungen. Je schärfer und klarer unsere Haltung gegenüber den Kund*innen ist, desto besser. Zur Planung unserer Interiors gehört viel Aufklärung. Wo stehen wir? Wie schlecht ist die Branche in Bezug auf Emissionen und Ressourcenverschwendung? Wir präsentieren Ökobilanzierungen – der Hebel der CO2-Einsparungen ist dann groß!

Du sagst, dass Ihr eine neue Designsprache entwickelt. Wie sieht diese aus?
Sie hat Narben. Denn diese erzählen eine Geschichte von Weiterverwendung und Ressourcenschutz. Das ist ein Mehrwert. Brüche, Macken sind kein Wegwerfkriterium, sondern eine Herausforderung für eine kreative Aufgabe, für ein „handwerkliches Heilen“. Sie werden meisterhaft repariert. Unsere Entwürfe sind ein Mix aus Gestaltung und Handwerk. Sie sind die Essenz aus der Cradle-to-Cradle-Denkschule und „form follows availability“. Das sorgt für eine maximale CO2- und Ressourcen-Einsparung im Hier und Heute.

Demnach wäre so etwas wie „handwerkliches Heilen“ oder „Reparaturdesign“ die nächste aufstrebende Gestaltungsdisziplin, oder?
Das könnte sein. Zumindest wird der klassische Prozess – Gestaltung, Materialauswahl, Umsetzung – hinfällig. Bei uns gibt es einen Richtungswechsel hin zu: Materialauswahl, Gestaltung, Umsetzung. Erfolg wird künftig das Büro haben, das eine Leistung mit kleinstmöglichem Impact anbietet.

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Links

Urselmann Interior

urselmann-interior.de

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