Der Fliesenmacher
Wie Edgard Chaya in Beirut eine Zementfliesenfabrik aufbaute
Das Wort „Ruhestand“ kennt Edgard Chaya nicht. Im Gegenteil: Als Rentner gründete er eine Fabrik, die Zementfliesen produziert und inzwischen weltweit exportiert. Wir haben den 93-Jährigen in Beirut besucht und uns die Produktion angeschaut.
Wir sind mit Nabil Chaya unterwegs in das Industriegebiet von Beirut, denn hier ist die Firma seines Vaters Edgard angesiedelt. Im August 2020 hatten sie Glück im Unglück, erzählt er. Die Fliesenfabrik blieb von der gewaltigen Explosion, die die Stadt erschütterte und zu einem großen Teil zerstörte, weitgehend verschont. Das ist auch insofern von Bedeutung, weil das Unternehmen seine Zementfliesen exportiert und damit Devisen einnimmt, was nicht selbstverständlich ist im krisengebeutelten Libanon und den Mitarbeiter*innen einen sicheren Arbeitsplatz beschert.
Rentner? Unternehmer!
Edgard Chaya ist 93 Jahre alt und kommt noch immer jeden Tag in sein Büro, wo er uns bei einem Glas Tee empfängt. Wie zum Beweis hängt sein Arbeitskittel am Garderobenhaken. Immer mit dabei hat er seinen Hund, den er auf Arabisch Blatt getauft hat, was so viel wie Fliese heißt – eine Anspielung auf den Namen seiner Firma: BlattChaya. Edgard Chaya ist ziemlich charismatisch und witzig noch dazu, wie auch die kleine Regenwolke auf der roten Wand seines Büros zeigt. Dort war ein Fleck, den er kurzerhand übermalte, erzählt er. Und auch, wie es dazu kam, dass er 1996 sein Unternehmen gründete. Damals war er immerhin schon 67 Jahre alt und längst in Rente. Es habe ihn gelangweilt, immer nur herumzusitzen oder fischen zu gehen, sagt er lachend. Zuvor hatte Chaya jahrzehntelang vier Wechselstuben betrieben und war Vorsitzender der Wechselstubenbesitzer im Libanon.
Langer Atem
Das mit den Zementfliesen kam so: Edgar Chaya entdeckte im Nachlass des Vaters seiner Cousine eine Holzkiste mit Metallschablonen und begann nachzuforschen. Er fand heraus, dass seine Familie Ende des 19. Jahrhunderts ein Unternehmen gegründet hatte, das über drei Generationen hinweg Zementfliesen herstellte. In den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts musste BlattChaya schließen und lag im Dornröschenschlaf, bis Edgard Chaya die Familientradition wiederbelebte. Er hatte einen langen Atem und ziemlich viel Ehrgeiz, denn sechs Jahre dauerte es, bis er die richtige Mischung von traditionellen Ingredienzen und natürlichen Farben für die Herstellung der Fliesen ausgetüftelt hatte – in einer kleinen Werkstatt mit einem einzigen Mitarbeiter. „Ich wollte das unbedingt hinbekommen“, sagt er. Und fügt hinzu: „Ich bin ein Perfektionist.“ Dann endlich war es soweit: Mehr als sechzig Jahre, nachdem die letzte Fliese bei BlattChaya hergestellt wurde, begann die Produktion erneut – unter dem Motto „Evolving towards the past“ (dt.: „Entwicklung Richtung Vergangenheit“), wie es auch auf einem Banner in der Fabrik steht.
Die Designer*innen kommen
Was als Hobby begann, hat sich inzwischen zu einem soliden Unternehmen entwickelt, das auch in andere Länder exportiert. Besonders schön: BlattChaya ist in der Region einer der wenigen Hersteller, der das Know-how hat, historische Fliesen herzustellen und auch Arbeiter ausbildet. Zuvor vor es nicht möglich, beschädigte Fliesenböden in historischen Gebäuden zu reparieren oder zu ergänzen – und davon gibt es gerade in Beirut eine ganze Menge. BlattChaya arbeitet eng mit Architekt*innen zusammen, stattet private Residenzen, Office-, Retail- und Hospitality-Projekte aus. So sind die Fliesen des Herstellers auch in einem der schönsten Hotels in Beirut zu finden, dem Albergo. Als wir die Fabrik besuchen und Edgard Chaya uns herumführt, zeigt er uns nur einige der insgesamt rund 100 verschiedenen Designs. Die Standard-Kollektion umfasst traditionelle Stücke, die mit ihren Arabesken orientalisch anmuten oder im Art-Nouveau- und Art-Deco-Stil gehalten sind. Einige der Dekore stammen noch aus der Holzkiste seines Onkels, andere wurden in historischen Gebäuden im Libanon oder an anderen Orten der Welt entdeckt.
Wie modern die Fliesen aus dem Standard-Programm trotzdem mitunter anmuten, zeigt die Kollektion Batroun mit einem Muster aus dreidimensionalen Würfeln, die nach dem libanesischen Badeort benannt und in subtilen Farbkombinationen gehalten ist. Die Kollektion Deir El Kamar kommt ebenfalls im klassischen Format (20 mal 20 Zentimeter) daher, besteht im Wesentlichen aus einem Muster aus zwei Halbkreisen und ist zweifarbig gehalten. Die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen libanesischen Designer*innen liegt der Besitzerfamilie besonders am Herzen, weshalb die Designer Collection auf den Markt gebracht wurde. So hat die Grande Dame der libanesischen Gestaltung, Nada Debs, eine Kollektion entworfen, die durch eingelegte zarte Messingstreifen überrascht. Von Carlo Massoud stammen Fliesen mit einem Muster stilisierter Kakteen, während Studio Safar mit Farben und Geometrien spielt.
Harte Handarbeit
Läuft man mit Edgard Chaya durch die Fabrikhallen, wird einem bewusst, wie viel Handarbeit hinter der Herstellung einer einzigen Fliese steckt. Stolz zeigt er uns ein Hinterzimmer, in dem sich der Schatz von BlattChaya befindet: die Metallschablonen-Sammlung. Wir laufen an einem Mitarbeiter vorbei, der Zement aus Säcken holt und durch ein Sieb siebt. Die Fliesenherstellung ist eine staubige und anstrengende Arbeit – wohl auch deshalb arbeiten in der Produktion fast nur Männer. Ein Mitarbeiter zeigt uns, wie verschiedenfarbige Massen aus Sand, Zement und Pigmenten in die Metallschablone gegossen werden, die in einem Metallrahmen liegt. Wird sie entfernt, entstehen die charakteristischen weichen Übergänge zwischen den verschiedenen Farben. Mit trockenem Mörtel bedeckt, wird die Zementfliese dann unter hohem Druck hydraulisch gepresst, getrocknet und in einem letzten Arbeitsschritt poliert.
Überall in der Fabrik stehen Pakete mit Fliesen herum, die in alle Welt geschickt werden, an Stellwänden kann man unzählige Muster und Farben betrachten. Neben den vorhandenen Kollektionen fertigt BlattChaya auch maßgefertigte Fliesen, die in enger Abstimmung mit Architekt*innen und Interiordesigner*innen für bestimmte Projekte entstehen und für die eigene Metallschablonen hergestellt werden. „Wenn ein Architekt im Libanon seinem Kunden heute einen Bodenbelag vorschlägt, dann entweder Marmor oder Fliesen von BlattChaya“, sagt Edgard Chaya und freut sich über seinen Erfolg.
Es liegt in der Familie
Weil Edgard Chaya schon 93 Jahre alt ist, wird er inzwischen von seinem Sohn Karim Chaya unterstützt. Das passt ziemlich gut, denn er ist Produktdesigner mit dem eigenen Designlabel Spock Design und außerdem Inhaber von Acid, einem Unternehmen, das ganz in der Nähe Metallinstallationen und -möbel herstellt. Unternehmertum, Kreativität und Ehrgeiz scheinen der Familie im Blut zu liegen, denn auch Edgard Chayas einzige Tocher Caline, die Industriedesign studiert hat, und seine Enkeltochter Youmna arbeiten bei BlattChaya. Nabil Chaya überlegt ebenfalls, in das Unternehmen einzusteigen – das erzählt er uns, als wir wieder zurück in die Stadt fahren. Er ist stolz auf die Familientradition und auf seinen Vater ganz besonders.
FOTOGRAFIE Claudia Simone Hoff
Claudia Simone Hoff