„Wir empfinden unsere Krankenhäuser als Körperverletzung“
Tanja C. Vollmer und Gemma Koppen im Gespräch
Die Architekturpsychologin Prof. Dr. Tanja C. Vollmer und die Architektin Prof. Gemma Koppen vom Büro Kopvol architecture & psychology sprechen über die Raumwahrnehmung Schwerkranker und die Antworten, die die Architektur darauf bietet.
Mehr als 30.000 Menschen haben die Ausstellung Das Kranke(n)haus im Architekturmuseum der TU München bereits gesehen. Eine der Kuratorinnen ist die Architekturpsychologin Prof. Dr. Tanja C. Vollmer. Mit der Architektin Prof. Gemma Koppen gründete sie 2009 das Büro Kopvol architecture & psychology in Rotterdam und eröffnete 2019 eine Dependance in Berlin. Gemeinsam haben sie die Raumwahrnehmung Schwerkranker untersucht und Antworten gefunden, die die Architektur darauf geben kann.
Der Titel der von Ihnen mit kuratierten Ausstellung Das Kranke(n)haus impliziert, dass in unseren Krankenhäusern vieles nicht richtig läuft. Was ist das aus gestalterischer Sicht?
Tanja C. Vollmer: Vor etwa 15 Jahren, als die ersten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber erschienen, dass Aussicht auf Natur oder Einzelzimmer einen positiven Effekt auf die Genesung haben, gelang es uns mit der Rotterdam-Studie zu zeigen, dass schwerkranke Menschen im Krankenhaus ihre Umgebung verändert wahrnehmen. Räume erscheinen ihnen signifikant enger, dunkler und überfüllter als Gesunden. Oft verwenden sie räumliche Metaphern wie „Ich stehe vor einer Wand“ oder „Ich bin in einem tiefen, schwarzen Loch“, um ihren seelischen Zustand zu beschreiben. Aus den Erkenntnissen entwickelten wir die Raumanthropodysmorphie-Theorie. Kurz: Wenn der Körper erkrankt, erkrankt der Raum mit ihm. Und wir eröffneten einen Weg, wie Krankenhausgestaltung Heilung unterstützen könnte, indem sie auf diese Wahrnehmungsveränderungen eingeht.
Welche Auswirkungen hat diese Wahrnehmung?
Tanja C. Vollmer: Das geht so weit, dass Patient*innen ihre Therapien abbrechen, weil sie schon Panikattacken beim Betreten des Hauses bekommen. Durch wissenschaftliche Untersuchung können wir auch sagen, dass sich Schmerzen und andere körperliche Symptome verstärken, weil die Architektur eben nicht gestalterisch auf die Wahrnehmungsveränderungen reagiert. Daher bezeichnen wir unsere Krankenhäuser aktuell noch als Körperverletzung.
Gemma Koppen: In den letzten 25 Jahren wurden die Krankenhäuser extrem technisiert und fast durchgehend von gesunden Menschen konzipiert. Diese haben die Fähigkeit, Dinge auszuklammern und zu ignorieren. Kranke Menschen haben das nicht mehr. Mit unserer Arbeit möchten wir erreichen, dass wir uns stärker in die Lage Kranker hineinversetzen.
Tanja C. Vollmer: Deshalb steht auch gleich im Eingang der Ausstellung ein Patientenbett, in das sich die Besucher*innen tatsächlich hineinlegen dürfen, und am Ende die LA INFIRMITA, unsere zum Modulor ergänzende Maßfigur, die den Kranken in den Fokus der Entwürfe rückt.
Wie versetzen Sie sich in die Lage der Patient*innen?
Gemma Koppen: Ich habe als Architektin das Glück, dass ich mit Tanja Vollmer eine Wissenschaftlerin an meiner Seite habe. Denn man muss wirklich wissenschaftliche Methoden anwenden, um diese Perspektive einzunehmen. Die Architekturpsychologie ist die Schlüsseldisziplin dabei.
Tanja C. Vollmer: Wir haben bei uns im Büro das Evidence Based Design etabliert. Das bedeutet, dass man wissenschaftsbasiert seine Entwurfsentscheidungen treffen muss, wenn es um die Verwendung öffentlicher Gelder und wichtige Anliegen wie den Gesundheitsbau geht. Entweder stützen wir uns auf bereits vorhandenes Wissen oder machen diese Studien selbst in der sogenannten Phase 0, also noch vor Ausschreibung des Wettbewerbs. Dieses Vorgehen unterscheidet sich deutlich davon, im straffen Zeitrahmen einer Bauplanung noch schnell mit den Nutzer*innen ihren Bedarf zu klären. Wir wollen ihre Bedürfnisse ernst nehmen und daraus wissenschaftsfundierte Architekturkonzepte entwickeln. Wenn die Planung bereits steht, ist das unmöglich. Änderungen sind stets mit hohen Kosten verbunden, die ein Krankenhausbetreiber natürlich vermeidet.
Wie ist die Ausstellung aufgebaut?
Tanja C. Vollmer: Sie ist in drei Teile gegliedert. Im ersten werden Projekte gezeigt, die mit einzelnen Aspekten der Healing Architecture experimentieren, wie beispielsweise kugelförmige Oberlichter für Wachkomapatient*innen in der Rehab Basel von Herzog & de Meuron. Im zweiten Teil werden 13 internationale Projekte gezeigt, die jeweils einen Faktor in ihren Entwürfen aufweisen, der als wissenschaftlich erwiesen gilt, Heilung zu unterstützen. Beispielsweise das Friendship Hospital in Bangladesch, in dem sich die Patient*innen entlang eines Kanals und der Fließrichtung des Wassers intuitiv orientieren können, anstatt sich in komplizierten Leitsystemen zu verlieren. Es ist die erste Krankenhausausstellung, die Entwurfsforschung und -praxis auf diese Art verbindet und damit eine neue Richtung für die Krankenhausarchitektur der Zukunft weist.
Gemma Koppen: Bei den Wirkfaktoren, auf die sich die Ausstellung konzeptionell bezieht, handelt es sich um sieben Umgebungsvariablen, die einen messbaren Einfluss auf die Stresswahrnehmung von Schwerkranken haben. 2021 gelang uns nach 15-jähriger Forschungs- und Entwicklungsarbeit hier ein Durchbruch und wir konnten sie identifizieren als: Orientierung, Geruchskulisse, Geräuschkulisse, Rückzug und Privatheit, Power Points, Aussicht und Weitsicht und das menschliche Maß, Privatheit und Tageslicht. Im Buch Architektur als zweiter Körper beschreiben wir ihr Wirkungsspektrum. In der Ausstellungspublikation nennen wir sie erstmals Die Heilenden Sieben.
Gibt es bestimmte Materialien oder Farben, die sich aus Ihrer Sicht besonders bewährt haben?
Gemma Koppen: Für uns kommen Materialien, Farben und künstliches Licht erst im zweiten Schritt. Wenn man zuerst hierüber nachdenkt, um so etwas wie heilende Architektur zu gestalten, dann ist es schon zu spät. Oft wird leider etwas Schreckliches gebaut und man versucht, es mit einem schönen Anstrich zu retten. Dann hat man aber bereits 80 Prozent des Potenzials verschenkt, die Heilenden Sieben umzusetzen. Denn sie haben nicht nur mit Materialien, sondern auch mit Raumproportionen und -anordnung zu tun. Es geht um ein gelungenes Zusammenspiel.
Tanja C. Vollmer: Das zeigt zum Beispiel ein Projekt aus den Niederlanden, das in der Ausstellung gezeigt wird. Die Station hat einen unüblich breiten Gang mit Mittelinseln, in denen sich die Angehörigen außerhalb des Patientenzimmers aufhalten und entspannen können. Es entsteht eine wohnliche Atmosphäre, die durch Teppichboden und Wandpaneele auf der akustischen Ebene unterstützt wird. Lehmdecken haben sich bewährt, um unangenehme Gerüche zu neutralisieren. Das bedeutet nicht, dass alle Planer*innen Lehm verwenden sollen, sondern die Aufforderung: Geht kreativ mit dem Faktor Geruchskulisse um.
Wie stehen Sie zu dem Begriff „Healing Architecture“? Kann Architektur wirklich heilen?
Gemma Koppen: Es ist toll, dass es einen solchen Begriff gibt, der inzwischen in aller Munde ist. Leider wird er oft aus Marketinggründen verwendet. Zwischen dem, was es ist, und dem, was es sein sollte, klafft leider vielerorts eine riesige Lücke.
Tanja C. Vollmer: Architektur kann nicht heilen, aber heilungsunterstützend wirken. Sie kann die Stresssymptomatik signifikant erhöhen oder abbauen. Wenn man auf den Stress einwirkt, wirkt man auf die Genesung ein. Das klingt trocken, ist aber eigentlich genial, denn auf diesem Weg werden aus leeren Worthülsen glaubwürdige und vor allem wirksame Gebäude für Kranke.
Gemma Koppen: Da müssen wir Architekt*innen auch wirklich selbstkritischer werden.
Hohe Kosten sind oft ein Totschlagargument im Gesundheitsbau. Ist heilende Architektur immer teurer als konventionelle?
Gemma Koppen: Das muss nicht so sein. Die Ausstellung zeigt zum Beispiel die neue Kinder- und Jugendklinik Freiburg der Architekturgemeinschaft Health Team Vienna. Unser Büro wurde mit der Phase 0 beauftragt, um innovative Architekturkonzepte für die Kinder- und Jugendmedizin zu entwickeln. Dabei konnten sogar Quadratmeter – und damit Geld – eingespart werden. Langfristig erhoffen wir uns darüber hinaus Einsparungen in den Versorgungskosten, da die entwickelten Konzepte, Architektur zu einem Co-Therapeuten machen. Das BBSR (Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung) fördert daher auch die Evaluation des Freiburger Neubaus.
Tanja C. Vollmer: Das gilt auch für das Klinikpersonal. Sich die Arbeitswelten im Krankenhaus anzusehen, ist ein Schritt, um sich der heilenden Architektur zu nähern. Wir sprechen dann von „präventiver Architektur“ im Sinne der Krankheitsvermeidung. Wegrationalisierte Pausenräume wieder zurückzubringen oder kurze Wege ins Freie zu schaffen, kann einen hohen Einfluss auf die Ausfallraten der Pflegekräfte haben.
Die Ausstellung Das Kranke(n)haus: Wie Architektur heilen hilft läuft noch bis zum 21. Januar 2024 im Architekturmuseum der TUM in der Pinakothek der Moderne in München. Sie wird durch ein Vortrags- und Veranstaltungsprogramm begleitet. Voraussichtlich wird die Ausstellung künftig auch in anderen Städten zu sehen sein.