Ein Designer in olympischer Höchstform
Mathieu Lehanneur im Gespräch
Für den Franzosen Mathieu Lehanneur ist 2024 ein ganz besonderes Jahr. Wir sprachen mit ihm über seine tragende Rolle bei den Olympischen Sommerspielen in Paris und sein neues Projekt in New York, aber auch über eine kreative Initiative, für die er Morddrohungen erhielt.
Mathieu, 2024 ist definitiv Ihr Jahr: Sie werden 50, wurden im Januar zum „Designer of the year“ der Maison & Objet gekürt, weihen im Frühjahr ein Megaprojekt in New York ein und gestalten Fackeln und Kessel der Olympischen und Paralympischen Spiele in Paris. Wie hat sich eigentlich diese historische Mission ergeben?
Das Olympische Komitee hat einen Wettbewerb für auserwählte Designer ausgeschrieben. Eigentlich mag ich Wettbewerbe nicht, aber diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Warum hat sich gerade Ihr Konzept gegen die Entwürfe der zwölf weiteren Kandidat*innen durchgesetzt?
Die Jury mochte mein Drei-Säulen-Prinzip: Die absolute Symmetrie meiner olympischen Fackel symbolisiert die Gleichwertigkeit von Mann und Frau sowie den Olympischen und Paralympischen Spielen. Für den Austragungsort Paris wählte ich kein klassisches Postkartenmotiv wie den Eiffelturm oder den Triumphbogen, sondern wellenförmige Kurven als Repräsentation der Seine. Und ich hielt das Design sehr schlicht, um zu symbolisieren: Beim Fackellauf des olympischen Feuers geht es in erster Linie um Traditionen, entspannte Stimmung und friedliche Rituale, aber noch nicht um harten Wettkampf und Höchstleistungen. Das haben die Fackeln der vergangenen Olympischen Spiele mit viel Technologie und zahlreichen Details oft suggeriert.
Feuer und Flammen faszinieren Sie aber schon seit Langem. 2019 erregten Sie viel Aufmerksamkeit mit Ihrem Vorschlag, den abgebrannten Dachstuhl von Notre-Dame durch eine überdimensional große, goldene Flamme zu ersetzen...
Ich habe eine Leidenschaft für Formen, die von der Natur geschaffen werden. Und die Flamme von Notre-Dame hat tatsächlich große Wellen geschlagen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Anfeindungen ich dafür einstecken musste. Ich habe sogar Morddrohungen erhalten! Dabei war mein Entwurf in meinen Augen absolut stimmig. Denn damals gab es ja in Frankreich die hitzige Debatte, ob der Dachstuhl von Notre-Dame wieder originalgetreu oder eben ganz anders rekonstruiert werden soll. Ich habe für die zweite Option plädiert, weil wir Katastrophen jeglicher Art nicht ignorieren sollten. Meine Flamme sollte in diesem Sinne für immer an den verheerenden Brand in der Kathedrale erinnern. Und außerdem ist das Feuer in der Bibel oft ein Zeichen dafür, dass Gott gegenwärtig ist. Allerdings war diese Initiative nicht unbedingt als reales Projekt, sondern mehr als Statement gedacht, das bei den Menschen Reflexionen und Emotionen auslösen sollte – und das hat ja auch wunderbar funktioniert (lacht).
Zu Beginn Ihrer Karriere überraschten Sie mit einem Designansatz im medizinischen Bereich, der Menschen die Einnahme von Medikamenten erleichtern könnte. Dann wurden Sie mit Ihren Entwürfen weltbekannt, die Kunst, Design sowie Technologie vereinen und gründeten 2018 schließlich Ihre eigene Marke éponyme. Wie kam es dazu?
Die Gründung von éponyme war für mich die einzige Möglichkeit, die Kontrolle über meine kreative Identität zu behalten. Ich hatte es einfach satt, dass bei eigentlich jedem Auftrag Elemente der ursprünglichen Sinnhaftigkeit meiner Entwürfe verloren gingen. Natürlich muss man auf dem Weg zur finalen Realisation immer wieder Kompromisse finden – aber es ist viel stimmiger, wenn man diese mit dem eigenen Team und nicht mit der externen Kundenseite beschließt.
Ab diesem Frühjahr gibt es Ihre Designphilosophie auch in einem New Yorker Penthouse zu sehen. Was genau ist dieses „Pied-à-Terre à la Mathieu Lehanneur“?
Es ist ein großes Apartment, das wir mit unseren Entwürfen eingerichtet haben. Es soll aber kein Museum und keine Galerie, sondern eine Art interaktive Begegnungsstätte für unsere Kunden sein. Sie sollen sich dort treffen, einen Kaffee trinken und so unsere Möbel und Accessoires vor Ort ausprobieren. Deshalb nenne ich es auch lieber „Pied-à-Terre“ als „Showroom“.
Ist dieses Pied-à-Terre die Fortsetzung Ihres französischen Firmensitzes Factory, den Sie letztes Jahr in einem Pariser Vorort eingeweiht haben?
So könnte man es sagen. Allerdings ist und bleibt die Factory unser Creative Hub. Dort gestalten, fertigen und verpacken wir unsere Entwürfe, um sie in die ganze Welt zu verschicken. Mein Traum ist es, dass wir in ein paar Jahren dort alles selbst produzieren. Also dass die Factory dann vier oder fünf Etagen hat, auf denen sich auch Maschinen und Öfen befinden, mit denen wir Marmor und Glas selbst bearbeiten. Mich reizt einfach diese Vision, eine Produktionskette von A bis Z in Eigenregie durchführen zu können.
Ihr kreatives Universum zeigten Sie kürzlich auch in Form einer exklusiven Szenografie namens Outonomy, die Sie im Rahmen ihrer Nominierung zum „Designer des Jahres 2024“ auf der vergangenen Maison & Objet präsentierten.
Normalerweise stellt der Designer des Jahres ja auf einer prominenten Ausstellungsfläche ein Potpourri seiner Werke aus. Ich hatte jedoch keine Lust auf eine Retrospektive, sondern auf etwas Neues. Ich wollte einen Lebensraum gestalten, der unseren Grundbedürfnissen gerecht wird. Es sollte aber kein Prototyp werden, sondern – ähnlich wie mein Entwurf zur Rekonstruktion von Notre-Dame – die Betrachtenden zum Nachdenken animieren: Was brauche ich unbedingt in meinem Zuhause? Worauf kann ich verzichten? Wohne ich derzeit am richtigen Ort? Bin ich dazu bereit, mein Leben neu zu ordnen? Es ging um Fragen, die sich viele Menschen vor allem während der Coronapandemie gestellt haben. Und es war sehr interessant für mich, wie die Besucher auf Outonomy reagiert haben. Wie sie Objekte ausprobiert und angefasst haben und wie sie das Projekt kommentiert haben. Denn genau darum geht es ja eigentlich: Ich möchte wissen, was die Menschen unserer heutigen Gesellschaft beschäftigt, und ihnen in meiner Rolle als Designer Vorschläge machen.
Lassen Sie sich auch ganz allgemein auf Messen inspirieren?
Ich gehe, ehrlich gesagt, sehr selten auf Messen. Obwohl es natürlich in Paris, Köln und Mailand fantastische Dinge zu sehen gibt. Aber es wird mir einfach alles sehr schnell zu viel und jedes Mal denke ich: Oh Gott, es gibt so viele Menschen, die so gute Ideen haben, dass ich mir ganz dringend einen anderen Beruf suchen sollte (lacht).
Das wäre schade. Zumal Ihnen gerade alles zu gelingen scheint. Dazu wirken Sie immer gut gelaunt. Da drängt sich geradezu die Frage auf: Haben Sie eigentlich auch Schwächen?
(Überlegt lange) Mir fällt es schwer, im Hier und Jetzt für die Menschen präsent zu sein. Weil ich zu sehr in Gedanken versunken bin, aber auch generell eher ein Einzelgänger bin. Und ich bin wahnsinnig ungeduldig. Ich lebe jeden Tag so, als wäre mein Leben morgen vorbei. Das ist für mein Umfeld oft sehr anstrengend. Also insofern kann ich Sie beruhigen: Ich habe so einige Schwächen, aber ich kann sie eben gut verbergen (lacht).