Menschen

KI als Mitbewerberin

Interview mit Rafael Lalive von der Universität Lausanne

Als Teil eines Schweizer Forschungsteams hat der Ökonom Rafael Lalive im vergangenen Jahr 1.000 Berufe auf ihr Automatisierungsrisiko untersucht. Wir sprachen mit dem Professor darüber, wie sich unsere Arbeitswelt und unsere Städte verändern werden. Außerdem wollten wir wissen, ob Architekt*innen und Designer*innen sich um ihre Zukunft Sorgen machen müssen.

von May-Britt Frank-Grosse, 15.11.2023

Rafael Lalive ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Lausanne. Dort beschäftigt er sich mit Fragen der Arbeitsmarktpolitik, der Sozialökonomie und der Familienpolitik. Gemeinsam mit Schweizer Robotiker*innen und Ökonom*innen der EPFL (École Polytechnique Fédérale de Lausanne) und der Universität Lausanne hat er eine Softwarelösung entwickelt, die Benutzer*innen das Automatisierungsrisiko ihres Berufs aufzeigt – und alternative Berufe mit niedrigerem Risiko vorschlägt.

Herr Lalive, welche Berufe sind besonders durch KI gefährdet?
In der Studie haben wir die Gesamtheit aller Fähigkeiten, die von Maschinen erledigt werden können, berechnet. Dabei haben wir festgestellt, dass vor allem Berufe betroffen sind, die geringere Anforderungen an die Tätigkeiten stellen, die also nicht komplex sind. Dort ist der Anteil der Fähigkeiten, die ersetzt werden können, sehr hoch. Ein Beispiel ist die fleischverarbeitende Industrie. Nicht der Metzger, der nah am Kunden ist, sondern die Arbeit der Person, die am Fließband steht und deren Tätigkeit durch Maschinen ersetzt werden kann, ist bedroht. Am anderen Ende des Spektrums sind Berufe, wo man viel lernt und sich hoch spezialisiert: der Physiker, die Physikerin. Das ist die am wenigsten durch Automatisierung betroffene Berufsform – gemäß unseren Berechnungen.

War bei den Ergebnissen etwas besonders überraschend für Sie?
Ja, wir haben zum Beispiel festgestellt, dass der Beruf des Fotomodells stark automatisiert werden kann. Da dachten wir zuerst, das kann nicht sein, das ist ein Fehler. Man will ja keine Maschine sehen, sondern eine Person. Tatsächlich wird in dem Bereich aber schon jetzt sehr viel mit künstlicher Intelligenz nachgeholfen.

Wie wird KI unsere Arbeitswelt verändern?
Was wir beobachten ist, dass für alle mühsamen Tätigkeiten Maschinen erfunden werden, die uns die Arbeit abnehmen. Das ist aber nicht überall möglich. Reinigungskräfte etwa müssen viele verschiedene Handgriffe durchführen. Maschinen machen hier nicht viel Sinn, denn sie sind sehr teuer im Vergleich zu den niedrigen Löhnen, die wir dem Reinigungspersonal bieten. Aber es gibt eine andere Perspektive: Nehmen Sie das Verfassen von Texten. Dies ist ein kognitiver Aufwand. Es gibt Leute, die das gerne tun. Bei mir ist es weniger der Fall. Durch künstliche Intelligenz wird das einfacher. Bei Arbeitsprozessen werden wir immer mehr nur den Teil ausfüllen, der uns Spaß macht. Die positive Vision ist also, dass die Maschine uns unangenehme Tätigkeiten abnimmt.

Und die negative Vision?
Wo sich die Gewitterwolken abzeichnen? (lacht) Ja, wir sehen inzwischen, dass die neuen, großen Sprachmodelle einen Teil der Intelligenz – das Erfinden, Ideen zu haben – imitieren oder sogar selbst entwickeln können. In einer Studie haben wir ChatGPT kurze Absätze schreiben und parallel dazu Menschen die gleichen Themen bearbeiten lassen. ChatGPT hat viel, viel bessere Texte verfasst. Vielleicht sagen Sie: „Das erstaunt mich nicht." Aber hier ging es nicht um formale Kriterien der Texte, sondern um Ideen und Inhalte. Sprachmodelle haben Baupläne erstellt für Roboter, die gehen können. Diese weichen total ab von dem, was Robotik-Spezialisten kennen und anwenden. All das sind Zeichen, dass die Maschine viel mehr tun kann, als wir bisher erwartet haben.

Architekt*innen, Innenarchitekt*innen und Produktdesigner*innen liegen beim Automatisierungsindex mit 0,53 und 0,56 im unteren Bereich. Was bedeutet das?
Das haben wir viel diskutiert und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Zahl selbst nicht viel bedeutet. Wichtig ist ihre Einordnung in der Rangliste der tausend Berufe. Das heißt, beide Berufsbilder sind etwas unterhalb der Mitte. Sie liegen in einem Bereich, der im Moment stabil ist, wo wir keine Beschäftigungsverluste sehen, obwohl Maschinen einen Teil der Arbeit erledigen können. Das erklärt sich durch die beiden Effekte der Maschine: Sie kann uns stärker machen oder uns ersetzen.

Müssen sich unsere Leser*innen demzufolge keine Sorgen machen?
Nein. In einer unveröffentlichten Studie bin ich der Bedeutung dieser Zahl zwischen 0 und 1 nachgegangen. Ich habe in der Schweiz und in den USA geschaut, wie sich Berufe, die eine tiefe und eine hohe Automatisierungswahrscheinlichkeit haben, in den letzten fünf Jahren entwickelt haben. Berufe in der Mitte, mit einem Indexwert von um 0,65, haben sich stabil entwickelt. Die Berufe, die etwas unter der Mitte lagen, haben sich positiv entwickelt und sind expandiert. Bei den Berufsbildern der Architekten und Architektinnen gehen wir davon aus, dass im Moment nicht der Ersatz überhandnimmt, sondern die Ergänzung durch KI. Berufe, die etwas über der Mitte lagen, haben sich negativ entwickelt, sind also geschrumpft.

In Deutschland erleben wir einen zunehmenden Fachkräftemangel. Wurden solche Entwicklungen in der Studie miteinbezogen?
Die Arbeitsmarktlage haben wir nicht berücksichtigt. Was ebenfalls nicht mitberücksichtigt wird, ist etwa der Beitrag zu einer nachhaltigen Wirtschaftsleistung. Es gibt Green Growth, eine Reihe von Kriterien, die bei der Berufswahl und der Beurteilung von Berufen sehr wichtig sind. Die sind bewusst nicht mit enthalten, weil das ein akademisches Papier ist, das mit dem Laserstrahl an einer bestimmten Thematik arbeitet. Alle Berufsbilder, die eine hohe Ausbildung erfordern und gleichzeitig eine große Spezialisierung mit sich bringen, sind tendenziell eher vor einer Automatisierung geschützt.

Viele Menschen haben Angst vor der Zukunft mit KI. Gibt es auch positive Beispiele, die heute schon eingesetzt werden?
Ein Freund hat mir ein Beispiel aus den USA erzählt. Dort gibt es eine Anwaltskanzlei, die dank ChatGPT sehr viel mehr Services anbieten kann für Menschen, die wenig verdienen. Diese konnten sich bisher keinen Anwalt, keine Anwältin leisten. Aber was sie jetzt tun können, ist, normal ausgebildete Menschen damit beschäftigen, dass sie sich Fälle anhören. Sie können über ChatGPT eine erste juristische Einschätzung einfordern. Ein System prüft, ob die Einschätzung mit dem Recht in Einklang ist. Diese Rechtsverfahren sind standardisiert. So können dieselben Services bedeutend billiger angeboten werden als vor der Automatisierung.

Sie haben erläutert, dass Branchen aussterben oder sich zumindest stark verändern werden. Diese Änderungen wirken sich auch darauf aus, wie wir unsere gebaute Umwelt nutzen werden.  Haben Sie eine Vorstellung oder ein Bild davon, wie die Stadt zukünftig aussehen könnte?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich bin in meinem akademischen Freijahr und werde in Berkeley einen Teil des Frühlings verbringen. San Francisco ist eine Geisterstadt. Das wird aber nicht so bleiben, das weiß man. San Francisco hat viele Krisen erlebt. Im Moment gibt es ein Überangebot an Büroräumen, weil sich die IT-Industrie sehr stark ins Homeoffice zurückgezogen hat. Das bietet wieder Möglichkeiten für neue Freiräume in der Stadt. Gleichzeitig hat sich das Verteilen der Güter massiv auf das Internet verlagert. Die Treiber sind Corona plus Technologie. Das könnte dazu führen, dass Städte verschwinden, weil man sie nicht mehr braucht. Ich glaube das aber nicht. Die Städte werden bleiben, um den Austausch von Ideen zu ermöglichen, um gemeinsame Großanlässe zu haben. Für die Menschen steht dann das Stadtleben im Vordergrund und nicht mehr das Stadtarbeiten.


Wollen Sie wissen, ob Ihr Beruf bald von einer KI übernommen wird? Auf der Webseite Robots, jobs, and resilience können die Ergebnisse abgefragt werden.

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