Das Leichte und das Schwere
Die außergewöhnlichen Bauwerke des Architekten Christian Tonko
Gekonntes Spiel der Kontraste: Nicht nur mit seinem alpinen Vorzeigeprojekt „Vergalderie“ im Montafon stellte der Vorarlberger Architekt Christian Tonko seine originelle Herangehensweise unter Beweis. Ein Porträt.
Auf eine Idee wie diese muss man erstmal kommen: Für sein persönliches Bauprojekt Vergalderie sammelte der Vorarlberger Architekt Christian Tonko das Baumaterial mit seiner Familie eigenhändig und persönlich ein. Das heißt: jeden einzelnen Stein. Über Jahre hinweg suchte der ambitionierte Bergsteiger und Skitourengeher die Hänge rund um das Bergdorf Gargellen nach losen Gesteinsbrocken ab. Fündig wurde er nach Muren oder Steinschlag. Er nahm nur Felsabbruch, welcher der natürlichen Erosion geschuldet war, und nur mit Erlaubnis der Grundbesitzer. Wie bei einem Mosaik setzte er den unregelmäßigen, unbearbeiteten Naturstein Stück für Stück zu einer interessant artikulierten Fassade zusammen. Natur ist ja meist der schönste Schmuck. „Das größte Problem stellten die Hausecken dar, für die es Steine mit rechtem Winkel brauchte“, erzählt Christian Tonko. Wenn die Beschaffenheit eines Steins nicht passte, zog Familie Tonko erneut los, um das fehlende Puzzleteil zu suchen und vom Berghang zu klauben.
Bauen mit der Landschaft als Materialquelle
Ähnlich wie damals, als man schwere Lasten hier am alten Säumerpfad der „Via Valtellina“ über die Pässe schleppte, brachte Familie Tonko ihre Schätze teils mit Hilfsmitteln, teils zu Fuß zurück in den Weiler Vergalda oberhalb von Gargellen. „Schätzungsweise 90 bis 100 Tonnen Gestein war insgesamt nötig. Durch diesen Hintergrund entstand ein ganz persönlicher Bezug zu manchem Stück, das eine eigene Geschichte erzählt“, sagt Tonko. Dass hierbei unterschiedliche Gesteinsarten wie Gneis und Schiefer buchstäblich zum Tragen kamen, bewirkt eine weite Palette natürlicher Farbtöne, die der Fassade Lebendigkeit verleiht.
Dabei ist die auf 1.530 Meter Höhe in einem Seitental gelegene Vergalderie mit ihrer interessant gestalteten Steinfassade keine „case study“, sondern ein Verweis auf jene massiven, trutzigen Zollhütten oben entlang der nahen Grenzpässe zur Schweiz, die aus dem jeweils örtlich verfügbaren Naturstein errichtet wurden. Unterhalb der Baumgrenze gibt es im Montafon mangels Steinbrüchen keine Steinhäuser. Diese Zollhäuschen zitierend hebt sich die Vergalderie deutlich von den benachbarten, im Baustil der Walser errichteten Holzhäusern der Maisäßsiedling Gargellen ab.
Kunstgalerie mit luftigem Kern
Ebenfalls ungewöhnlich: Hinter der massiven Fassade wirkt das Herzstück der Vergalderie, eine zweigeschossige Kunstgalerie, umso luftiger und loftiger. Derzeit zeigt die Galerie Werke des Bregenzerwälder Bildhauers Herbert Albrecht. Die schwere Hülle, der transparente Kern – ein mutiger Gegensatz, der Spannung erzeugt und durch stimmige Proportionen ausbalanciert wird. Neben Kunst beherbergt der Ende 2024 fertiggestellte Schindeldach-Bau drei heimelige, hochmoderne Ferienapartments, deren Ausstattung ausnahmslos mit regionalen Materialien, zum Beispiel Fichte und sägeraue Esche, erfolgte. Die großzügigen Panoramafenster rahmen die Gipfel von Madrisa und Ritzenspitzen. Im Herbst sieht man auch die „schottisch nebligen Farben beim Sonnenaufgang, dazu den Bergwald in Ocker, Rot und Gelb“, wie der junge Architekt berichtet. Nature is an artist, heißt es ja.
Rückkehr nach Vorarlberg
„Eine mühsame, aber eine schöne Tätigkeit“, so erinnert sich Tonko an das jahrelange Steinesammeln. Derzeit zieht der 1984 in Feldkirch geborene Architekt von Wien wieder zurück nach Vorarlberg, wo neue Bauaufträge warten. Die Anfänge: Neben dem Studium der Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien absolvierte Christian Tonko ein Studium der Philosophie an der Universität Wien, wo er sich mit Gedankenmodellen von Michel Foucault auseinandersetzte und Vorlesungen bei Peter Sloterdijk besuchte.Schon während seiner Diplomarbeit, in der Tonko „als spekulativen Vorschlag“ ein altes Kernkraftwerk in ein Sanatorium für Rheumakranke umwandelte, beschäftigte ihn „die Dichotomie aus Schwere und Leichtigkeit“. Nach dem Studium arbeitete Tonko fünf Jahre im Büro seines früheren Professors Wolfgang Tschapeller in Wien, welcher wegen seiner visionären Entwürfe als „Baukünstler“ bezeichnet wird. „Für mich war er die wohl prägendste Figur“, sagt Tonko, der als Soloselbstständiger inzwischen auf eine ganze Anzahl eigener realisierter Projekte schaut.
Überraschende Bauprojekte
Sein Erstlingsprojekt, ein für seinen Vater gebautes Maleratelier namens Camera lucida, zeigt sich als erfrischend out of the box gedachte Idee: Es ist eine an den Hang gelehnte Vierkant-Röhre mit Knick im unteren Baukörper, der aus einem einzelnen Beton-Kubus mit Fassadenpaneelen aus wetterfestem Stahl besteht. Für ein Ehepaar aus Kärnten entwarf der Architekt das an drei Seiten transparent-einsichtige Tiny House MM01, das sich an der Terrassenseite zum nahen Waldrand öffnet. „So bietet der Wald einen guten Sichtschutz und liefert Privatheit, dazu dient er als Klimaanlage“, sagt Tonko. Da ohne Fundament angelegt, lässt sich das 20-Quadratmeter-Raumwunder mit dem multifunktionalen Mobiliar rückstandslos per LKW abtransportieren.
Offenheit und Privatheit in Kombination – ein Leitmotiv, das auch bei Tonkos realisiertem Entwurf für ein älteres Ehepaar in Wolfurt bei Bregenz eine tragende Rolle spielte. Für den als Hofhaus angelegten Wohnsitz diente Amerikas Midcentury Modernism als Referenz. Auf seine Bewohner*innen zugeschnitten arrangieren sich die Wohnräume ebenerdig um einen Innenhof mit Pool, der zugleich als Lichthof fungiert, während die Außenwände mit ihren knapp gehaltenen Fensteröffnungen den Bau vor Blicken aus benachbarten Häusern abschirmen. Von der Straßenseite her gesehen erscheint das Ensemble wie zwei unabhängige übereinander gelagerte Baukörper mit kontrastierender Fassadengestaltung.
Gestalterisches Feingefühl bewies der Architekt auch schon in größerem Maßstab: zum Beispiel beim Umbau eines Bestandsgebäudes für drei Familien in Vorarlberg, ebenso beim Haus Rickenbach mit seinen drei Wohneinheiten. Dort erbrachte der Architekt überraschende Lösungen jenseits des standardisierten Wohnbaus. Auch wenn Christian Tonko von einer großen Herausforderung spricht, sich angesichts des „Überangebots an Architekten zurechtzufinden“ – mit Blick auf sein Portfolio gelungener Bauprojekte dürften seine Auftragsbücher künftig gut gefüllt sein.
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