Judith Seng: Performance für die Forschung
Die Designerin hinterfragt Selbstverständlichkeiten.
Heutzutage stellen Designer Fragen. Immer wieder und unbequeme noch dazu. Einfach Formen finden für Produkte, das war gestern. Warum auch, wenn die meisten Dinge doch schon tausendfach vorhanden sind. Stühle, Sofas, Leuchten, Tassen – alles da. Wenn sich nur die Form verändert, ist Gestaltung dann nicht Dekoration? Zeitgeist, der fröhlich unterhalten will? Interessant wird es, wenn Designer Prozesse analysieren und die Wechselwirkungen von Form, Funktion und Nutzer betrachten. Designer wie Judith Seng, die nicht nur mit ihrem Langzeitprojekt Acting Things auf eine vielversprechende Forschungsreise geht.
„Ist eigentlich die Form eines Tisches Ursache oder Wirkung einer sozialen Interaktion“, fragt die in Berlin lebende Designerin. In ihrer Arbeit Patches hat Judith Seng versucht, an den formalen Gewissheiten zu rütteln. Patches ist ein Set aus vier kleinen Tischen. Jeder könnte für sich alleine stehen, aber in der Gruppe gerät die Funktion Tisch in Frage. Wenn Dinge anders gedacht werden, stehen die Chancen gut für Neues. Routinen hinterfragen und vielleicht verändern, das ist Judith Sengs Thema. „Mich interessiert, was Produkte mit uns machen.“ Design als Versuchsaufbau, die Nutzer werden zu Teilnehmern eines Experiments. Klar wird: So selbstverständlich ist es nicht, wie wir mit Dingen umgehen und interagieren.
Und wissen wir eigentlich um die Qualität von Produkten? Bei Trift setzen partiell farbig lackierte Holzblöcke die Frage bei der Oberfläche an. Gefundene Baumstümpfe erhalten einen rechtwinkeligen Zuschnitt und werden mit einer hochglänzenden Lackierung versehen. Perfekt im Augenblick der Fertigung, aber über die Zeit sorgt das Trägermaterial für eine unaufhaltsame Transformation. Auch Misfits, Assemblagen aus Glasprodukten der Wiener Manufaktur Lobmeyr, forschen am Qualitätsbegriff. Judith Seng schlägt hier die Definition eines veränderten Standards vor. Stimmen die Verhältnisse, wenn in der Produktion mehr als 50 Prozent der erzeugten Waren als mangelbehafteter Ausschuss definiert werden? Schließt ein geringer Fehler im Material wirklich die weitere Verwendung aus oder können Bedingungen für eine Nutzung neu definiert werden? Die Objekte aus der B-Ware, die in Zusammenarbeit mit Alex Valder entstanden, sind keine Konkurrenz zum regulären Angebot. Sie behaupten sich mit einer eigenen Formensprache, auch weil die Funktionen deutlich sind. Aus vordergründigem Mangel wird Zugewinn. Ein Ansatz, der auch für andere Produktionen taugen könnte.
Arbeit als Ritual
Spannend wird es, wenn man die Betrachtungen nicht allein auf das Ergebnis, sondern auf den Prozess lenkt. „Welche Perspektiven eröffnen sich beispielweise, wenn wir Arbeit als Ritual betrachten, die Produktion als Tanz oder Spiel?" Fragen, die sich Judith Seng stellte, als sie in Bayern einen traditionellen Bandltanz beobachtete. Nach einer dem Publikum verborgenen, den Tänzern jedoch bekannten Choreographie werden dabei Bänder um einen Pfahl geflochten, das Flechtwerk anschließend wieder aufgelöst. Die zufällige Beobachtung wurde zum Ausgangspunkt für das Projekt Acting Things. Seng: „Wenn wir nun einen Entwicklungsprozess aus der Perspektive der darstellenden Künste betrachten, verändert sich der Begriff des formbaren ‚Materials’. Es geht dann um die einzelnen Handlungen der Darsteller, ihre Geschichte, ihren Geist und ihre Körper, die ganze sinnliche Ebene, Instinkte, Gefühle und Wünsche.“ Mit diesem Ansatz wird der Prozess zum Produkt, ein handfestes Objekt entsteht zunächst nicht.
Zuschauer als Gestalter
Zu diesem Gedankengang entwickelte Judith Seng mehrere Versuchsanordnungen. In Berlin wurden Theaterbesucher selbst auf die Bühne zu einem Production Theater geladen. Seng und ihr Team stellten Bretter, Latten, Nägel, Werkzeuge und eine grobe Anleitung bereit. Es sollten Tische entstehen, an denen am Ende des Abends gemeinsam gegessen wird. „Der Fokus des gesamten Abends lag ganz auf dem Prozess. Die Gäste hatten dabei die Rolle eines Gestalters“, beschreibt Seng das Szenario. „Aus der Situation heraus wurden dann die Funktionalitäten verhandelt.“ Eifrig, aber auch unsicher gingen die Beteiligten in der temporären Fabrik ans Werk. Eine richtige Lösung im Sinne einer formalen Vorgabe existierte nicht, entsprechend unterschiedlich sahen die Tischkonstruktionen aus. Die realisierten Produkte wurden später fotografisch dokumentiert, in einem weiteren Schritt dann um professionelle Eingriffe der Designerin ergänzt. Mitsamt der Dokumentation der Erfahrungen der Teilnehmer entstanden so „ineffiziente Bauanleitungen“ im Abbildungsmaßstab 1:1.
Tänzer als Formgeber
Während der diesjährigen Messe Design Miami/Basel erweiterte Judith Seng das Szenario. Zwei professionelle Tänzer waren über mehrere Tage zur Auseinandersetzung mit einem Material aufgefordert. Die Tänzer sollten ihre trainierten Ausdrucksmöglichkeiten nutzen, um aus Modellierwachs Objekte zu formen. Mehrere Stunden Vorbereitungen waren notwendig für wenige Minuten Formbarkeit. Die andauernde Bearbeitung des zähen Wachses durch die Akteure ermöglichte Modulation und Formensuche. Ein Briefing der Tänzer zum Umgang mit dem Material und zum Umgang miteinander gab es nicht. Mit jeder Performance entstanden gestaltete Objekte, von denen täglich eines aufbewahrt wurde. Der Rest wurde wieder als Rohmaterial für den nächsten Tag verwendet.
Herstellungsprozess als Dialog
Durch die tänzerische Aktion wird der Prozess in der Gesamtheit von der Vorbereitung bis zur Umsetzung überdeutlich. „Acting Things versucht auch zu erforschen, welche Bedeutung die Herstellung jenseits von Kriterien für Effizienz und Ergebnisorientierung haben könnte“, erläutert Judith Seng. Der Herstellungsprozess als Dialog zwischen Mensch und Material. Ist das nun artifizielle Performance oder ein außergewöhnlicher Gestaltungsansatz? Judith Seng: „Eher Designforschung. Ich nutze hier gestalterische Mittel, um Verhältnisse und Abläufe deutlich zu machen.“ Trotz aller ästhetischen Wirkung der Projekte gehen die Arbeiten doch weit über übliche Gestaltungsarbeiten hinaus. Judith Sengs Beobachtungen und Analysen der Prozesse erinnern bisweilen an Managementmethoden, gehen aber mit ihren Fragestellungen weiter.
Designer als Fragensteller
Sind solche Überlegungen zu theoretisch? Eher analytisch und vorausschauend, wie das Interesse von Unternehmen beweist. Ein Rennwagen-Produzent hat erst kürzlich bei Judith Seng angefragt, mehr wird nicht verraten. Für einen Autozulieferer untersuchte sie Mobilität. Seng: „Wir haben eine Karte mit Fragestellungen entwickelt und die Soft-Facts von Mobilität betrachtet. Begriffe wie Heimweh, Fernweh oder Synchronizität und Vernetzung angeschaut.“ Designer in der Rolle der hartnäckigen Fragensteller. Designer, die Auseinandersetzung und Dialog suchen. Haben die heute so geliebten Altmeister des Faches nicht ehedem ähnlich radikal agiert?