Design als kulturelles Gedächtnis
Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand

Es dauerte nur wenige Tage und Polen war in aller Munde. Genauer gesagt: zeitgenössisches polnisches Handwerk und Collectible Design. Die Ausstellung „Romantic Brutalism“ war eines der Highlights der diesjährigen Milan Design Week. Nicht nur des Ausstellungsortes wegen, einer vornehmen Wohnung in der Viale di Porta Vercellina. Vor allem begeisterten die Qualität und Vielseitigkeit der gezeigten Objekte.
Es gehört schon ziemlich viel Mut, Arbeit und vor allem Talent dazu, um während der Milan Design Week mit einer Designausstellung für Aufmerksamkeit zu sorgen – gerade dann, wenn man kein großes Unternehmen mit unendlichen Marketing-Ressourcen ist. Der neu gegründeten Visteria Foundation aus Warschau ist gelungen, wonach alle streben, die nach Mailand kommen: sich herauszuheben aus der Masse, für (positiven) Gesprächsstoff zu sorgen und im besten Fall langfristig in Erinnerung zu bleiben.
Die polnische Unternehmerin Kasia Jordan (rechts) hat die Visteria Foundation mit dem Ziel gegründet, polnisches Handwerk und Design zu fördern, die italienische Kuratorin Federica Sala konzipierte die Ausstellung.
Polnisches Mäzenatentum
Hinter dem Erfolg der in Mailand gezeigten Ausstellung Romantic Brutalism – A Journey into Polish Craft and Design steht ein gut orchestrierter Masterplan vor allem einer Frau: Katarzyna Jordan. Die Unternehmerin ist dem Collectible Design und auch dem Handwerk wohlgesonnen, verlegt sie doch seit einigen Jahren High-End-Magazine wie Vogue Polska und Vogue Living Polska. Außerdem ist sie Schirmherrin des polnischen Pavillons auf der Kunstbiennale in Venedig und Partnerin der Zachęta National Gallery of Art, des Museums für Moderne Kunst in Warschau, sowie des Adam-Mickiewicz-Instituts.
Doch das reichte der Kunstmäzenin irgendwann nicht mehr, sie hatte Größeres vor. Die von ihr unlängst gegründete Visteria Foundation will das polnische Kunsthandwerk und Design fördern – das historische, aber vor allem das zeitgenössische. Die Mailänder Ausstellung war dabei eine Art Kick-off-Veranstaltung, die ab Ende April auch in Warschau zu sehen sein wird. Und zwar in der opulenten Villa Gawrońskich, die an einer Prachtstraße im Zentrum der polnischen Hauptstadt liegt. Katarzyna Jordan hat das baufällige Gebäude gekauft, das in den nächsten Jahren saniert, zum Sitz der Stiftung und in ein Museum für polnisches Handwerk und Design umgebaut werden soll.
Ausstellungsansicht
Italienisches Know-how
Mailand als Startpunkt der Arbeit der Visteria Foundation zu wählen, war eine bewusste Entscheidung, schließlich schlägt dort das Herz der internationalen Designszene. Und dass polnisches Collectible Design den internationalen Vergleich nicht scheuen muss, wurde den kundigen Besucher*innen ziemlich schnell klar. Wahrscheinlich gab es nicht wenige, die sich insgeheim beschämt fragten, warum ihnen dies nicht vorher schon aufgefallen war. Doch dort entblößt sich eine Wahrheit, die man in London, Paris und New York – den Zentren der Collectible-Design-Szene – vielleicht nicht so gern hören mag: dass Collectible Design aus Ländern des ehemaligen kommunistischen Ostens bisher sträflich vernachlässigt, wenn nicht gar ignoriert wurde. Abgesehen vielleicht von einem ebenso talentierten wie professionellen Gestalter wie Marcin Rusak, der lange in London gelebt hat und von internationalen Galerien wie Carpenters Workshop Gallery und Twenty First Gallery vertreten wird.
Kuratiert wurde die Mailänder Ausstellung von der Designspezialistin Federica Sala, die auch als Beraterin für große Unternehmen wie Alessi, Cappellini und Dolce & Gabbana arbeitet. Sie habe keine Ahnung von polnischem Design gehabt, als sie von der Visteria Foundation angefragt wurde, eine Ausstellung zu konzipieren, gibt die umtriebige Italienerin zu. Doch nach und nach hätte sie sich in die Geschichte und Gegenwart polnischer Gestaltung eingearbeitet und das Potenzial erkannt. „Die Tatsache, dass die Kuratorin eine Italienerin ist, verschafft eine frische Sicht auf das polnische Design“, findet Przemek Cepak, der mit dem von ihm gegründeten Teppichlabel Splot zu den 24 Ausstellungsteilnehmer*innen gehörte.
Wohn(t)räume alla Milanese
Die Ausstellung Romantic Brutalism bespielte zehn Räume und zwei Flure einer vornehmen Mailänder Wohnung in der Nähe der U-Bahn-Station Conciliazione – gestaltet von der polnischen Designerin Zuza Paradowska von Paradowski Studio. „Ich bin sehr stolz darauf, unser Land als Ganzes zu präsentieren und den Besuchern die Möglichkeit zu geben, Polen aus einer anderen Perspektive zu entdecken, die Entwicklung unserer Ästhetik und unserer Motive zu erkunden“, sagt Katarzyna Jordan. Dafür war das großbürgerliche Apartment – mit schönen Ausblicken auf eine italienische Gartenszenerie mit Skulpturen und viel Grün – in seiner Opulenz wie geschaffen. Die prächtigen Räume mit Terrazzoböden boten einen fast theatralischen Hintergrund für die ausgewählten Objekte, die exemplarisch auch jeweils für ein polnisches (Kunst-)Handwerk standen. Darunter waren archaisch anmutende Keramikgefäße von Gropk, in Polen und der Ost-Ukraine gefertigte Kelims von Splot, in der familieneigenen Schlosserei hergestellte Metallstühle von The Good Living & Co. und Glasleuchten von Hasik Design Studio.
Eröffnet wurde die Ausstellung mit einem echten Eyecatcher, der gleich im Entree für einen Wow-Effekt sorgte: einer speziell für die Schau angefertigten Hängeleuchte des Bildhauers Marek Bimer von Bimer Light, die über einem kunstvollen Konsoltisch von Formsophy als Centerpiece platziert war. Natalia Bimer, die das Unternehmen zusammen mit ihrem Vater leitet, erzählte, dass sie sich die Leuchte gut in dem Familienhaus in Warschau vorstellen könne, aber vielleicht fänden sich ja auch Käufer*innen dafür. Die Wände und Decken im Entree der Ausstellung waren aufwendig mit geschichteten und von Hand gefärbten Scherenschnitten „tapeziert“ – einer maßgefertigten Arbeit von Mikolaj Moskal und Kaja Gliwa, die auf die polnische Volkskunst des Scherenschnitts referenzierte.
Ausstellungsansicht
Eigenständig zum großen Ganzen
Auch wenn die Ausstellung dem zeitgenössischen polnischen Design gewidmet war, erinnerten einige Stücke aus dem Nationalmuseum in Warschau auch an die reiche gestalterische und handwerkliche Tradition des Landes, darunter Holzstühle mit pittoresken Schnitzmotiven. Das Ausstellungsdesign spielte außerdem mit Kontrasten, wenn beispielsweise traditionelle, in Polen mundgeblasene Glasobjekte mit Stücken aus dem 3D-Drucker von UAU Project zusammen präsentiert wurden – allesamt in Rottöne getaucht. Oder es wurde an das brutalistische Architekturerbe des Landes erinnert – in Form von ungewöhnlichen Ausstellungspodesten, die mit spontanen Zeichnungen aber sofort entzaubert wurden. „Ich wollte dem Betrachter nicht das Gefühl geben, alles sei harmonisch, alles schon einmal gesehen“, sagt Zuza Paradowska über die von ihr gestaltete Szenographie. Und ergänzte, dass trotz der visuell sehr unterschiedlichen Sprache der ausgestellten Objekte jedes seinen eigenen Wert habe und sich dennoch ein großes Ganzes ergäbe.
Aus dem Vollen geschöpft
Romantic Brutalism ließ die Besucher*innen tief eintauchen in das zeitgenössische polnische Collectible Design und nahm sie mit auf eine sehr sinnliche Entdeckungsreise. Die Ausstellung glich einem Füllhorn künstlerischer Ideen, handwerklicher Techniken und Materialien wie Holz, Glas, Keramik, Stahl, Spitze und Textilien, die man unbedingt weiter erkunden möchte. „Kasia Jordan hat die Messlatte mit dieser Schau sehr hoch gelegt“, sagt Przemek Cepak von Splot. Dem können wir nur zustimmen und sind gespannt, was da noch kommen mag.
Mehr über die Milan Design Week 2025 erfahren Sie in unserem Dossier.
Mehr Stories
Spektrum der Ruhe
Wie nachhaltig sind farbige Möbel?

Rauchzeichen aus dem Abfluss?
Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann

Alles Theater
Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025

Zurück zur Kultiviertheit
Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Dialog der Ikonen
Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet

Leben im Denkmal
Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum

Mission Nachhaltigkeit
Stille Materialrevolutionen bei Vitra

Zwischen Zeitenwende und Tradition
Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings

Spiel der Gegensätze
Best-of Outdoor 2025

Outdoor mit System
Clevere Lösungen für Außenbereiche von Schlüter-Systems

ITALIENISCHE HANDWERKSKUNST
Mit Möbeln, Leuchten und Textilien gestaltet SICIS ganzheitliche Wohnwelten

Glas im Großformat
Das Material Vetrite von SICIS bringt Vielfalt ins Interior

Surrealistische Vielfalt in Paris
Highlights von der Maison & Objet 2025

Aus der Linie wird ein Kreis
Reparatur und Wiederverwertung in der Möbelindustrie

NACHHALTIGKEIT TRIFFT DESIGN
GREENTERIOR by BauNetz id auf dem Klimafestival 2025

Flora und Fauna
Neues von der Design Miami 2024 und Alcova Miami

Vom Eckkonflikt zum Lieblingsraum
Geschichte und Gegenwart des Berliner Zimmers in fünf Beispielen

Möbel als Kulturgut zelebrieren
COR feiert seinen 70. Geburtstag

Nachhaltig Platz nehmen
Vestre produziert die Sitzbank Tellus aus fossilfreiem Stahl

Historische Moderne
Best of Interior 2024 geht an das Studio AADA

Design nach Wunsch
Zum individuellen Türgriff mit dem Online-Konfigurator von Karcher Design

Rendezvous mit Prouvé
Die Highlights der Design Miami Paris 2024

Begehbare Kunstwerke, Teil 2
Weitere Gestalter*innen teilen ihre spannendsten Bodengeschichten mit uns

Westfälische Werte
Sitzmöbel von KFF aus Lemgo erobern die Welt

Ikone der Moderne
Film über Eileen Grays Villa E.1027 an der Côte d’Azur

Fugenlos glücklich
Innovatives Profilsystem von Schlüter-Systems für Keramik- und Natursteinböden

Aus der Fläche in den Raum
Neues von der Fliesenmesse Cersaie 2024

Ein Faible für das Falsche?
Unterschätzte Scheußlichkeiten #1: Die Imitatfliese

Best-of Böden
Zehn innovative Fußbodenbeläge

Begehbare Kunstwerke
Planer*innen erzählen von ihren außergewöhnlichsten Bodenerlebnissen
