Revival der verlorenen Formen
Besuch der Ausstellung Fragmenta in einem Steinbruch bei Beirut
Dass Beirut weitaus mehr ist als ein Ort multipler Krisen und Konflikte, zeigt die erstaunlich standhafte libanesische Designszene. Drei Kreative haben sich zusammengetan und mit „Fragmenta“ ein Format ins Leben gerufen, das im September für Aufmerksamkeit sorgte. Die Idee: 49 Gestalter*innen, Steinfragmente und eine Ausstellungskulisse, wie sie spektakulärer nicht hätte sein können. Wir sind hingefahren – und vor Ort dem Beiruter Design-Vibe verfallen.
Rund 20 Minuten sind es mit dem Auto von der libanesischen Hauptstadt Richtung Norden. Linker Hand türmt sich ein großes Felsmassiv empor, oben stehen mehrstöckige Wohnhäuser gefährlich nah am Rand. Unten befindet sich das Headquarter des größten libanesischen Steinproduzenten Najem Group. Dahinter steckt – wie so oft im Libanon – eine Familiendynastie.
Familiengeschichte
Im Libanon habe man eine Vorliebe für Marmor und andere Natursteine – das erzählt Nazih Najem, als er uns über das Firmengelände führt. Er gründete das Unternehmen 1981, nachdem er mit seinen zwei Brüdern in den Siebzigerjahren von seinem Vater ein kleines Geschäft geerbt hatte. Seither ist Nazih Najem von dem Business fasziniert und den Natursteinen insbesondere. Er kenne jeden Steinblock auf dem Gelände, sagt er und zeigt auf einen massiven Lapislazuli-Brocken, der einen sechsstelligen Betrag wert ist. Die Steinblöcke, die aus der ganzen Welt kommen und die der Firmenchef oft selbst vor Ort ausgesucht hat, sind auf dem riesigen Gelände so platziert, dass sich eine gewisse ästhetische Ordnung ergibt. Bewege man sich zwischen den Blöcken, könne man die Energie der Steine spüren, sagt Najem.
Auf dem Gelände liegen auch jede Menge Fragmente herum, die er im Laufe der Jahre zusammengetragen hat. Es sind Abfälle oder bearbeitete Steine, die bereits ein Leben hinter sich haben – darunter Kapitelle, Mosaike und Grabplatten. Es ist ein beeindruckendes Sammelsurium von Materialien, Farben und Formen. Sie offenbaren die gesamte Bandbreite von Natursteinen und das, was man aus dem vielseitigen Material so alles machen kann. Neben dem Materiallager befindet sich auf dem Gelände auch eine der vier Produktionsstätten der Najem Group, drei weitere sind in Beirut angesiedelt.
Nicht einfach nur Steine
Als wäre diese Kulisse nicht beeindruckend genug, fand Mitte September eine Veranstaltung statt, die das Fabrikgelände in einen riesigen Designparcours verwandelte. Daran nahmen einige der wichtigsten Protagonist*innen der libanesischen Kreativszene teil, darunter Karen Chekerdjian, Carlo Massoud, Roula Salamoun und Richard Yasmine. Fragmenta – The Revival of Lost Forms nennt sich das Format, das die Interiordesigner*innen Gregory Gatserelia und Guilaine Elias sowie die Modedesignerin Nour Najem in den letzten Monaten entwickelt haben. Die Idee: Designer*innen, Architekt*innen und Künstler*innen, aber auch Kreativen aus anderen Bereichen eine Plattform zu bieten, um das Material Naturstein kennenzulernen und damit zu experimentieren. Und zwar vorrangig mit Fragmenten – bereits bearbeiteten Natursteinen, die ihre Funktion verloren haben und darauf warten, in etwas Neues transformiert zu werden. Das Konzept hat einerseits pragmatische Gründe, kann man doch davon ausgehen, dass das Unternehmen hofft, neue Gestalter*innen geschäftlich an sich zu binden. Andererseits kann man darin – unabhängig vom Aspekt der Nachhaltigkeit – auch einen poetischen Hintergrund sehen: Den in den Steinfragmenten vorhandenen historischen Schichten werden neue hinzugefügt.
49 Positionen
Ganze 49 Kreative hatten der Kurator Gregory Gatserelia und seine Co-Kuratorinnen Guilaine Elias und Nour Najem für die erste Ausgabe von Fragmenta versammelt, wobei nicht ganz klar ist, nach welchen Kriterien sie ausgewählt wurden. Dementsprechend schwankte auch die Qualität der ausgestellten Arbeiten. Die Objekte von Roula Salamoun, Carlo Massoud, Karen Chekerdjian, Samer Bou Rjeily und Richard Yasmine stachen heraus – sowohl die Gestaltungsidee als auch deren Ausführung betreffend. Wenig überraschend, dass es sich dabei fast ausschließlich um Designer*innen mit langjähriger Erfahrung und besonderer Materialexpertise handelte. Vielleicht wäre es klüger gewesen, sich für die erste Ausgabe auf weniger Teilnehmende zu konzentrieren, gerade in Anbetracht der Tatsache, dass es weitere Ausstellungsformate und eventuell sogar eigene Designeditionen mit Najem geben soll.
Hals über Kopf
Viele der am Projekt beteiligten Gestalter*innen berichten, dass sie sich geradezu Hals über Kopf in bestimmte Steinfragmente verliebt hätten, die sie auf dem Fabrikgelände vorgefunden hatten. Bei der Aneignung der Fundstücke und deren Umsetzung in neue Objekte waren jedoch ganz verschiedene gestalterische Strategien zu beobachten. Es gab Designer*innen, die ausschließlich mit Fragmenten arbeiteten, solche, die sie um Elemente aus Naturstein ergänzten und jene, die ihre Objekte mit anderen Materialien kombinierten. So wie Richard Yasmine, der ein verspieltes Brunnenfragment um Blüten und Blätter aus Holz, Keramik und Seide ergänzte, was sehr poetisch wirkt. Er habe die Keramikblüten selbst gefertigt und dabei erstmals mit Ton gearbeitet, erzählt er. Roula Salamoun sagt, dass einem die Arbeit mit einem so widerstandsfähigen Material wie Stein viel über Beständigkeit lehre: „Design wird zu einem fortwährenden Dialog zwischen Vermächtnis und Gegenwart.“
Ein Konzept aus Steinen
Eine raumgreifende Installation hatte Alexandra Mtaini konzipiert. Sie arbeitet eigentlich als Kunstberaterin für Privatsammler*innen und erklärt, dass sie zuvor weder ein Designobjekt geschaffen, noch mit Naturstein gearbeitet habe. Deshalb sähe sie ihre Arbeit eher konzeptionell und habe sich nach einigen inneren Kämpfen auch von ihrem Perfektionismus verabschiedet, was sich im Nachhinein als befreiend dargestellt habe. Erst wollte sie die an Ketten hängenden Steinfragmente nach dem Goldenen Schnitt aufhängen, sei dann aber wegen der Komplexität davon abgekommen. Eines der Steinfragmente, die laut ihrer Schöpferin die Belastungen des Lebens darstellen sollten, hing an einer von Mtaini gestalteten Kette. Doch sie habe wegen der hohen Produktionskosten nicht alle Objekte an solch eine Kette hängen können, sagt sie bedauernd.
Formen und Geschichten
Roula Salamoun hatte schon vor Ausstellungsbeginn ein zweites Exemplar ihres Tischs Astérites verkauft – und das bei einem Preis von rund 30.000 Euro. Schaut man sich ihren Entwurf für Fragmenta an, versteht man warum: Er ist gestalterisch fein, ausgewogen und ein ausgesprochener Eyecatcher. Sie habe gleich gewusst, dass die achteckigen, schwarzen und weißen Säulenfragmente Ausgangspunkt ihres Entwurfs werden sollten, erläutert die Designerin. Dazu kombinierte sie eine organisch geformte, dünne Tischplatte in waldgrünem, stark gemasertem Naturstein. Die Achtecke der Säulenfragmente, die nun als Beine dienen, durchstoßen die Tischplatte flächenbündig und bilden auf der Oberfläche ein subtiles Muster. „Ich sehe die achteckigen Fragmente nicht als Überbleibsel, sondern als Verbindungspunkte“, kommentiert Salamoun. „Jedes Fragment ist eine Konstellation von Geschichten und Formen, die sich während der Fragmenta-Veranstaltung zu entfalten begannen und dies auch weiterhin tun werden, wenn das Werk ein neues Zuhause findet.“
Auferstanden aus Ruinen
Für die libanesische Designszene ist eine Initiative wie Fragmenta weitaus mehr als einfach nur eine weitere Veranstaltung, auf der man seine Arbeiten zeigen kann. Sie ist auch ein Gradmesser dafür, was möglich ist in einem Land, in dem die Bedingungen für Kreative immer schwerer und komplexer werden. „Die bedeutungsvollsten Projekte beginnen lokal, verwurzelt in der Gemeinschaft, in diesem Fall der Design- und Handwerksgemeinschaft des Libanon“, ist Roula Salamoun überzeugt. „Dies ist besonders wichtig in einer Wirtschaft, die regelmäßig von geopolitischen Schwankungen betroffen ist.“ Es ist gerade erst ein Jahr her, dass Beirut bombardiert wurde – parallel zu der bereits bestehenden schweren politischen und wirtschaftlichen Krise des Lands.
Doch man wolle als Designer*in aus dem Libanon nicht immer nur mit Zerstörung, Krieg und Gewalt in Verbindung gebracht werden, meint Stephanie Moussalem vom gleichnamigen Studio. „Wir träumen, kämpfen und arbeiten weiterhin mit voller Leidenschaft – immer mit dem Wissen, dass jedes Projekt morgen beendet sein könnte.“ Wegen der Unberechenbarkeit der politischen Situation im Libanon suchen viele Gestalter*innen inzwischen ihr Glück zumindest teilweise im Ausland, darunter Paola Sakr und Tessa Sakhi. Doch fast alle produzieren ihre Entwürfe weiterhin im Libanon, auch um den Kontakt zur Heimat nicht zu verlieren und die versierten Handwerker*innen vor Ort zu unterstützen.
Sich immer wieder neu erfinden
Andere Designer*innen haben sich entschieden, auch unter widrigsten Bedingungen im Libanon zu bleiben – oder haben schlichtweg nicht die finanziellen Mittel, um das Land zu verlassen. Und teilweise versuchen sie, jenseits von Collectible Design und Interiordesign neue Geschäftsfelder zu erschließen. Zu den Daheimgebliebenen gehört auch Richard Yasmine, der demnächst einen neuen Workspace in Mar Mikhael bezieht, wo er sich auch ein Keramikstudio einrichten wird, um neue Materialien und Herstellungstechniken zu erproben. Er verweist darauf, dass Design und Architektur in Krisenzeiten im Libanon keine Priorität hätten. „Der Krieg hat die Herausforderungen noch verschärft – von steigenden Produktionskosten über Lieferverzögerungen bis hin zu erhöhten Frachtkosten.“ Und dennoch sei Widerstandsfähigkeit Teil der libanesischen DNA, ergänzt Yasmine, der sich im letzten Jahr verstärkt internationalen Projekten gewidmet hat.
Zu den Designer*innen, die vorwiegend international arbeiten, gehört Georges Mohasseb von Studio Manda, der seine Collectible-Design-Objekte über Galerien wie Le Lab in Kairo und Galerie Gosserez in Paris verkauft. „Ich bin von der derzeitigen Krise kaum betroffen, weil mein Betätigungsfeld zu 90 Prozent außerhalb des Libanons liegt“, erzählt er. Auch Roula Salamoun ist gut im Geschäft und orientiert sich in Richtung Vereinigte Arabische Emirate, wie so viele Designer*innen aus dem Libanon. So arbeitet sie beispielsweise gerade an der Gestaltung des Forum-Bereichs der Designmesse Downtown Design in Dubai, die im November stattfinden wird.
In alle Welt
Die libanesische Designszene zeichnet sich seit jeher durch eine erstaunliche Dichte von Talenten aus. Auch wenn einige von ihnen ins Ausland abgewandert sind – so wie Joy Herro, die mit The Great Design Disaster einen eigenen Ausstellungs-Space in Mailand betreibt – kehren doch im Sommer alle zurück in den Libanon. Um ihre Familien und Freund*innen wiederzusehen oder um an Designveranstaltungen wie Fragmenta teilzunehmen.
Während andere Formate wie We Design Beirut – eine Art Fortführung der vor einigen Jahren eingestellten Beirut Design Week unter neuer Führung – eher lokal ausgerichtet sind, öffnete sich Fragmenta mit seiner ersten Ausgabe auch nach außen. Zwar waren internationale Gestalter*innen wie Studio Mancuso und Agglomerati noch in der Minderheit. Doch bei der Vernetzungsfreude der Kurator*innen und Teilnehmenden ist davon auszugehen, dass das nicht so bleiben wird. Demnächst sollen einige der Fragmenta-Objekte im Stadtraum von Beirut zu sehen sein – das von Joy Herro steht seit einigen Tagen bereits in Karantina – und später vielleicht auch in Dubai, Doha und Mailand. Nour Najem, Guilaine Elias und Gregory Gatserelia wollen Fragmenta jedenfalls langfristig als Designplattform etablieren – mit dem Fokus Materialinnovation und Nachhaltigkeit, eingebettet in den reichen kulturellen Kontext des Libanons.
Fragmenta: The Revival of lost Forms
www.thisisfragmenta.comNajem Group
www.najemgroup.comSpecial Libanesisches Design
www.baunetz-id.deMehr Stories
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