Function follows vision
Ausstellung in Krefeld zu Arbeiten von Friedrich Kiesler und Walter Pichler

Die Kunstmuseen Krefeld inszenieren zusammen mit raumlaborberlin die Ausstellung „Visionäre Räume. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler“. Die Schau zeigt die Werke der beiden Architektenkünstler im Dialog und interpretiert sie neu.
Seit November 2024 bringen die Kunstmuseen Krefeld zwei Größen der avantgardistischen Bildhauerei und Architektur des 20. Jahrhunderts in einen spannungsvollen Dialog: Friedrich Kiesler (1890-1965), ein österreichisch-amerikanischer Künstlerarchitekt und Walter Pichler (1936-2012), ein österreichischer Architekt und Bildhauer. Beide machten sich einen Namen durch ihre experimentellen, zukunftsweisenden Konzepte. Das Kunst- und Architekturkollektiv raumlaborberlin entwickelte dazu eine Ausstellungsarchitektur, die den utopischen Geist Kieslers und Pichlers aufgreift und ihre Visionen in die Gegenwart übersetzt.
Sammlung Belvedere, Wien, © 2024 Österreichische Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung, Wien
Ein einziges Gespräch
Obwohl Kiesler für den deutlich jüngeren Pichler eine Quelle der Inspiration darstellte, beide sich ähnlichen visionären Fragestellungen widmeten und ihre Arbeiten auch formal interessante Bezüge zulassen, haben sie sich nur einmal persönlich getroffen: 1963 in New York. Über den Inhalt ihres Gesprächs weiß man nichts. Die Ausstellung greift diese „Leerstelle“ auf und lässt die fast schon geheimnisvolle Begegnung quasi real werden. Sechs Themenfelder führen die Werke zusammen. Und so gelingt hier ein permanentes Wechselspiel der Werke zweier Künstler zu einem harmonischen Gesamtbild.
Freigeister und Störenfriede
„Was wir hier sehen, ist keine klassische Architekturausstellung, sondern eine durch und durch interdisziplinäre Ausstellung. Die beiden Protagonisten sind Grenzgänger. Beide haben ihr Leben lang gegen eine funktionalistische Vorstellung von Architektur gekämpft – als Freigeister, Störenfriede – immer den Fokus auf die Vision und nicht ihre Umsetzbarkeit gelegt. Das macht ihre Werke so spannend“, erklärt der Kurator Michael Krajewski den Ansatz. „Das Display von raumlaborberlin interpretiert diese inspirierenden Perspektiven und deren Potenzial für aktuelle Herausforderungen wie ressourcenschonendes Bauen und menschennahe Wohnkonzepte“.
Lebensqualität verbessern
Friedrich Kiesler, der an der Akademie der Künste und der Technischen Hochschule Wien studierte, faszinierte bereits in den 1920er-Jahren mit revolutionären Ausstellungsdisplays. Später wendete er sich dem Theater zu, kreierte innovative Bühnenarchitekturen und -techniken, die etwa das frontale Verhältnis von Bühne zu Publikum erneuerten – durch runde und drehbare Bühnen. In Europa erfolgreich, ging er nach New York, wo er bis zu seinem Tod als Designer, Bühnenbildner, als Architekt und Hochschullehrer an der Columbia University mit dem eigens gegründeten Laboratory for Design Correlation wirkte und publizierte.
Architektur als Kunst
Auch Walter Pichler absolvierte seine Ausbildung in Wien, jedoch studierte er Grafik an der Hochschule für Angewandte Kunst. Schon früh zog es ihn nach Paris, wo er einige Jahre lebte. Über die Plastik kam er zu architektonischen Themen. Als er 1963 zusammen mit Hans Hollein in Wien utopische Architekturmodelle und -zeichnungen ausstellte, die Kritik an der funktionalistischen Moderne übten und die Architektur als Kunst forderten, wurde das Museum of Modern Art auf ihn aufmerksam. Es erwarb einige der Arbeiten – und Pichler zog nach New York. Dort entstanden dann Projekte wie der tragbare Minimalraum Kleiner Raum, eine Telefonzelle mit verschiedenen zusätzlichen Lebensfunktionen oder erste utopische Objekte zwischen Kunst, Architektur, Design und Skulptur, seine berühmten Prototypen.
Zurück in die Zukunft
Die Ausstellung Visionäre Räume. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler im Kaiser Wilhelm Museum der Kunstmuseen Krefeld startet mit einer detailgetreuen Rekonstruktion des spektakulären Werks Raumstadt von Friedrich Kiesler. Die offene und riesige, raumgreifende Rahmenkonstruktion wurde erstmals 1925 im Grand Palais in Paris gezeigt. Sie verkörpert Kieslers visionäre Idee einer modernen, schwebenden Stadt. Dabei ist sie nicht als starres Gebilde gedacht, sondern lädt ein, die Grenzen traditioneller Architektur neu zu denken. Sie fungiert als flexible Plattform, die sich ebenso für Aufführungen und andere Präsentationen weiter entwickeln lässt. Ein Statement, das auch heute noch hochaktuell ist: Wie können materialaufwendige Präsentations- oder Ausstellungsarchitekturen wieder- und weiterverwendet werden? Die Raumstadt liefert eine mögliche Antwort: Ihr Design ist multifunktional, skalierbar, weiter nutzbar, zeitlos – ein rundum modernes Ausstellungsdisplay.
Anders als gewohnt
Im nächsten Raum beeindrucken weitere Rahmenkonstruktionen. Diesmal sind sie kleiner, aus unbehandeltem Holz und mit locker drapiertem Gewebe überzogen. Das Ausstellungskonzept von raumlaborberlin bezieht auch klassische, unterschiedlich große Museumssockel ein, die ebenfalls mit Tuch eingehüllt zu abwechslungsreichen Displaylandschaften für Zeichnungen, Fotografien und Modelle zusammengefügt werden. Mit dieser Gestaltung knüpft raumlaborberlin an die Idee der Raumstadt an. Gleichzeitig fügt das Berliner Kollektiv eine nachhaltige, ortsbezogene Dimension hinzu: Die verwendeten Materialien – Stoffe aus Überproduktionen lokaler Krefelder Unternehmen sowie Elemente einer früheren Ausstellungsarchitektur der Kunstmuseen – werden hier recycelt.
Charakter und Orientierung
Der Rundgang durch die gesamte Ausstellung setzt diese narrative und visuelle Dynamik fort. Unterschiedliche formale und inhaltliche Phänomene der Querdenker Kiesler und Pichler werden dabei in den sechs Themenfeldern Archiplastisch, Organisch, Performativ, Sensorisch, Spirituell, Funktional gegenübergestellt und durch höchst vielfältige Inszenierungen ergänzt. Sockel oder Plexiglas-Hauben und weitere Elemente aus dem Museumsdepot werden kombiniert mit kunstvoll und teils raumgreifend drapierten Stoffbahnen. Jeder Raum erhält seinen eigenen Farbcode, seinen ganz eigenen Charakter. Geschickt präsentiert diese heterogene Gestaltung die Werke beider Künstler und gibt gleichzeitig die nötige Orientierung. „Durch die Kombination dieser Materialien entstehen sogenannte ‚Halluzinationen‘, die wie Überlagerungen von Mustern oder Fehlern wirken – eine Anspielung auf die visionäre, oft traumartige Qualität der Arbeiten von Kiesler und Pichler“, erklärt Francesco Apuzzo von raumlaborberlin.
Menschliches Bauen
Auch das Endless House, Kieslers Erforschung eines idealen Wohnhauses, das die Grenzen zwischen innen und außen aufhebt, wird in der Ausstellung gezeigt. Es ist ein Röhrensystem, das sich den Bedürfnissen des sich stetig weiterentwickelnden menschlichen Körpers anpasst. Das Werk baut auf Kieslers Theorie des Correalismus auf, welche die Wechselwirkung zwischen Mensch und Umgebung erforscht. Sein Buchprojekt Magische Architektur, für das er sich von Pflanzen- und Tierbauten inspirieren ließ, macht ihn zudem zu einem Vordenker des ökologischen Bauens. Auch Walter Pichlers Arbeiten stellen den Menschen in den Mittelpunkt: Seine frühen Gebäude- und Stadtentwürfe sind Überlegungen zur Position des Einzelnen im Stadtgefüge. Ab den frühen 1960er-Jahren rücken bei ihm natürliche Werkstoffe und eine anthropomorphe Formensprache in den Vordergrund. Thematisiert werden auch seine berühmten Prototypen: Skurrile, futuristische Objekte zwischen Körpererweiterungen, Apparaten und pneumatischen Gebilden, wie etwa Fingerspanner oder Radioweste, vermitteln hier sowohl die utopische Faszination der 1960er-Jahre als auch Technikkritik.
Prozesshafte und skulpturale Möbel
So utopisch oder abstrakt viele Entwürfe der beiden Künstler erscheinen mögen, mündet die Zeitreise der Ausstellung am Ende in ganz konkrete, realistische Produkte. Bei ihrem interdisziplinär angelegten Werk überrascht es kaum, dass sowohl Kiesler als auch Pichler Möbel entwarfen – allerdings mit unterschiedlichen Ansätzen. Kiesler betrachtete Objekte als den Anfang eines Prozesses, der erst durch ihre Benutzung sein volles Potenzial entfaltet. Multifunktionalität und Veränderbarkeit waren daher zentrale Aspekte: Sein Nesting Table, auf den ersten Blick ein simpler Satztisch, lässt sich in ein improvisiertes Sitzmöbel verwandeln. Walter Pichler hingegen konzipierte seine Möbel, die zur Prototypen-Reihe gehörten, als funktionale Skulpturen, um die Trennung zwischen Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand bewusst aufzulösen. Dazu zählen die futuristisch anmutenden Galaxymöbel, die er Ende der 1960er-Jahre in Kleinserie produzieren ließ.
Die Ausstellung Visionäre Räume. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler stellt nicht nur eine spannende Zeitreise durch avantgardistische Architektur-, Kunst- und Designkonzepte zweier Künstler dar. Eingebettet in ein kühnes, konsequent nachhaltig entworfenes Ausstellungsdisplay, wird die Schau zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk, das verdeutlicht, wie relevant die gezeigten Ideen für die Gegenwart sind.
Die Ausstellung Visionäre Räume. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler ist noch bis zum 30. März 2025 in den Kunstmuseen Krefeld zu sehen.
www.kunstmuseenkrefeld.de
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