Alles im Fluß
Keramikfieber auf dem London Design Festival 2022
Das London Design Festival 2022 stand zu seinem 20. Jubiläum ganz im Zeichen gebrannter Erden. Keramik lässt nicht nur den Staub der Vergangenheit hinter sich, sondern tritt auch aus der Fläche immer stärker in den Raum hinaus. Sinnlichkeit und Imperfektion sind die Zauberworte der Stunde.
Wer während der Ebbe an den Ufern der Themse entlang spaziert, findet mitunter Erstaunliches. Artefakte aus der Römerzeit, dem Mittelalter oder dem 19. Jahrhundert treten plötzlich zutage. Vor allem Keramik kann die Zeit erstaunlich gut überstehen, wie die Ausstellung Claylarks in der Londoner Galerie The New Craftsmen zeigte. Deren Kreativdirektorin Catherine Lock hatte mehrere Kunsthandwerker*innen zu einer Schlamm-Sammelaktion an der Themse eingeladen. Unter der Leitung des Gezeitenarchäologen Mike Webber entdeckten sie Tonscherben und kleine Objekte, die ihnen Inspiration für zeitgenössische Werke lieferten, wie die Leuchte Sugar Cone Light von Rich Miller, den Welcome Dining Table von Matthew Raw oder den Self Table von Viv Lee.
Erweiterung in die räumliche Dimension
„Die Arbeiten spiegeln eine Zeitlinie wider, die Tausende von Jahren an Tontraditionen umfasst“, erklärt Catherine Lock. Alte Technik im neuen Look, so die Formel. Der entscheidende Punkt: Keramik findet nicht „nur“ für Teller oder Fliesen Verwendung, sondern erobert die dritte Dimension in Form von Möbeln, Leuchten und Skulpturen. Gebrannte Erden begegneten einem bei diesem Londoner Design Festival, das vom 17. bis zum 25. September stattfand, auf Schritt und Tritt. Ein Material, das die Spuren der Hand in sich trägt. Die Unebenheiten der Oberflächen, das Fragile und zugleich das Erdige bestimmen den Reiz des Materials. Vielleicht kann man hierbei eine Analogie zu den Jahren nach der 1973er Ölkrise ziehen, als ebenso eine neue Leidenschaft für Keramik einsetzte und die Fantastic-Plastic-Manie ad acta legte.
Begehbares Gesamtkunstwerk
In einem Townhouse im Viertel Marylebone zeigte der Brite Martyn Thomson die Installation Jesture mit Keramiken, die in Partnerschaft mit dem Hersteller 1882Ltd. entstanden und in metallischen sowie erdigen Tönen von Hand bemalt wurden. Die Vasen standen auf bronzenen Sockeln und waren zu totemartigen Skulpturen in die Höhe gestapelt. Mit Jacquard-Textilgewebe bezogene Paravents und großformatige Fotografien griffen die punktartigen Farbmuster auf – und kreierten so eine Art begehbares Gesamtkunstwerk. Thomson, der seine Karriere als Fotograf begann, war bei einem Abendessen in Ilse Crawfords Studio mit dabei. Auch dort drehte sich alles um Keramik, konkret um die in Kolumbien gefertigte Leuchtenserie Raiz, die die Londoner Designerin für den deutsch-kolumbianischen Hersteller Ames gestaltet hat. Jede Leuchte besitzt einen handgefertigten, kegelförmigen Keramikschirm, der ein angenehmes, warmes Licht erzeugt.
Spuren der Hand
In der Designgalerie David Gill wurde die Ausstellung Ginori Reborn Project gezeigt, für die verschiedene Künstler*innen und Gestalter*innen die Service und Vasen der 1735 gegründeten Porzellanmanufaktur mit limitierten Editionen neu interpretierten. Nur wenige Schritte weiter widmete die Galerie Fumi dem Athener Gestalterduo Andreas Voukenas und Steven Petrides die Einzelausstellung Haptic Nature. Bereits beim Betreten der Galerieräume zogen mehrere Light Sculptures die Blicke auf sich. Die zwei Meter hohen Objekte waren aus Gips gefertigt und mit einem marmorähnlichen Finish poliert. Ein Couchtisch und ein Spiegel wurden aus Aluminium gegossen, während eine weitere Stehleuchte, eine Bank, drei Stühle und zwölf kleine Skulpturen aus Bronze gefertigt wurden. Was die Dinge vereinte, war die Lesbarkeit der Hand. Man konnte erkennen, wie die menschlichen Finger in den aus Ton gefertigten Vormodellen Spuren hinterlassen haben. Sinnliche, unebene Oberflächen, die den Eindruck von Weichheit vermitteln – selbst dann, wenn sie aus üppig-schwerem Metall gearbeitet sind.
Zwischen Archaik und Gegenwart
Die in New York und Miami ansässige Designgalerie Ralph Pucci eröffnete während des London Design Festivals einen Pop-up-Space im Stadtteil Mayfair. Auch hier waren die Formen fließend. Der französische Designer Patrick Naggar hatte mehrere Arbeiten geschaffen, die sich an der Schnittstelle von Skulptur und Gebrauchsobjekt bewegten, wie die Stehleuchten Aphrodite und Paros oder die Konsole Artemis. Sie vermeiden, geradlinige, gleichmäßige Formen und setzen eine Ode an das Imperfekte und Handgemachte: Dinge, die sich dem Industriellen bewusst entziehen und auf eigenartige Weise zwischen Archaik und Gegenwart oszillieren.
Nostalgie der Kindheit
Selbst Holzmöbel wurden von gebrannten Erden inspiriert. SCP präsentierte die Serie Of Nature von Wilkinson & Rivera. Der Whipped Chair ist aus Eibe geschnitzt und lässt in seiner Formensprache an Keramikarbeiten denken. „Formen, die die Nostalgie der Kindheit hervorrufen“, beschreiben Wilkinson & Rivera ihren Entwurf. Für Überraschung sorgte auch Vitra. Im neu eröffneten Showroom im Tramshed – einem lange als Restaurant genutzten Straßenbahndepot mit Damien-Hirst-Skulptur – wurde eine Wiederauflage des Fauteuil Kangourou von Jean Prouvé gezeigt. Der Entwurf aus dem Jahr 1948 ist insofern ungewöhnlich, als dass er die ingenieurhafte Geradlinigkeit anderer Prouvé-Entwürfe hinter sich lässt und mit einer geradezu brasilianisch anmutenden Sinnlichkeit und Skulpturalität daherkommt.
Polster aus Pilzen
Grund zum Feiern hat in diesem Jahr Tom Dixon. Zum 20-jährigen Bestehen seines Labels gab er eine große Party in seinem Showroom unweit von King’s Cross. Keramik war hier ausnahmsweise nicht zu sehen. Dafür blieb Dixon, der seine ersten Möbel einst aus Stahl geschweißt hatte, seiner Vorliebe für Metall treu. Die Leuchtenserie Etch wurde um einen Lüster erweitert, bei dem die prismatisch zusammengefügten Aluminium-Netz-Bleche in ihrer Mitte jeweils eine konvexe Krümmung vollziehen. Im Zusammenspiel der Elemente entsteht der Eindruck, als hätte man die Werke von Op-Art-Großmeister Victor Vasarely mit einer Disco-Kugel vermählt. Dass auch die inneren Werte zählen, zeigt eine Weiterentwicklung des bestehende Fat Chair. Dixon ging eine Kooperation mit dem US-amerikanischen Unternehmen Evocative ein, um Formschaumkomponenten aus Mycelium herzustellen, das auf dem hölzernen Untergestell wächst. „Ein anderes Produkt, das mit der gleichen Technik hergestellt wird, ist veganer Speck. Wir haben es hier also wahrscheinlich mit dem ersten essbaren Stuhl zu tun“, ist Tom Dixon überzeugt.
Materielle Verwandlungen
Den Prozess des Machens stellte Bocci-Gründer Omer Arbel mit seiner Installation Material Experiments in den Mittelpunkt. Im zentralen Innenhof des Victoria & Albert Museums platzierte er einen modernistisches, Mies-van-der-Rohe-angehauchtes Glasbläserstudio. Vor den Augen der Besucher*innen wurden auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden erworbene Objekte aus Kupfer und Glas in einem Ofen verflüssigt und in ihre Ausgangsmaterialien zurückverwandelt. Durch experimentelle Prozesse wurden sie zu 113 Artefakten neu zusammengefügt – Hybride auf formeller wie materialistischer Ebene. Die Botschaft: Nichts bleibt, wie es ist. Alles ist im Wandel – vor allem, wenn es erst einmal in menschliche Hände gelangt.
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