London Design Festival 2020
Handwerk, limitierte Editionen und neue Schulterschlüsse

Neustart nach dem Lockdown: Das London Design Festival feiert das Machen – mit viel Handwerk, limitierten Editionen und gestalterischen Schulterschlüssen. Klassische Messeformate müssen ebenso pausieren wie aufwändige Installationen und Ausstellungen. Stattdessen sind im kleinen Maßstab Entdeckungen zu machen.
Geht doch. Auch beim London Design Festival wurde spekuliert, ob es tatsächlich stattfinden würde. Doch die Macher haben frühzeitig Position bezogen – nicht trotz, sondern gerade wegen Corona. „Die Pandemie hat sich als eine der größten Bedrohungen für den Kreativsektor herausgestellt, bei der fast alle Events gecancelt und Geschäfte geschlossen wurden. Das diesjährige Festival spielt daher eine extrem wichtige Rolle, weil es eine Plattform für Designer bietet, um ihre Arbeiten zu zeigen“, erklärt Festivaldirektor Ben Evans. Die publikumswirksamen Messen Designjunction, London Design Fair und 100% Design fallen zwar aus. Auch auf die sonst im Victoria and Albert Museum verteilten Installationen wird verzichtet. Dafür verlagert sich das Geschehen in die Designgalerien und Showrooms der Stadt.
Sehnsucht nach der Natur
Die Sehnsucht nach dem Echten erfüllt Paul Cocksedge mit seiner Ausstellung Slump in der Carpenters Workshop Gallery im Stadtteil Mayfair. Der Londoner Designer wählte Fensterscheiben als Ausgangsmaterial und verlieh ihnen eine unerwartete Weichheit und Fluidität. Seine Methode: Er drehte die Glasflächen aus der Vertikalen in die Horizontale und platzierte sie über verschiedenen Dingen – erst ein konventionelles Tischgestell aus Metallstangen, dann schwere, aufrecht stehende Eisenrohre bis hin zu massiven Felsbrocken. Das Glas wurde in einem riesigen Ofen zum Schmelzen gebracht, sodass es den Eindruck erweckt, als sei es in den Unterbau eingesunken. Der Clou dabei: Die Transformation erfolgte nur an den Kontaktstellen zum Sockel, während die Scheiben an den Außenseiten flächig blieben. „Je mehr man mit dem Glas arbeitet, desto mehr erzählt es einem. Man denkt an Wasser, an Natur. Es verändert seinen Charakter“, sagt Paul Cocksedge beim Rundgang durch die Galerie.
Exzentrische Nester
It’s Good To Be Home heißt es bei der Designgalerie Fumi wenige Gehminuten weiter. Die in limitierter Edition gefertigten Möbel werden nicht singulär wie Skulpturen präsentiert, sondern in klassische Raumkonfigurationen wie Wohnzimmer, Esszimmer oder Terrasse eingebunden. Die zwei Etagen des Galerieraums hat Designerin Gemma Holt mit dicken Teppichen ausgelegt. Die Vorhänge reichen von der Decke zum Boden. „Ich wollte einen kokonartigen Raum erzeugen – weich, ruhig und neutral, um das beruhigende Gefühl des Zu-Hause-Seins wiederzugeben“, erklärt die Londonerin. Hingucker sind die modularen Sessel und Beistelltische aus der Serie Frammenti dei Glifi von Sam Orlando Miller, die sich mit ihren abwechselnd nach außen und innen gestülpten Seitenflächen endlos addieren lassen. Morbiden Charme bringt Emma Witter ein, die aus den Knochenresten Londoner Restaurants und Fleischereien geheimnisvolle Nester konstruiert.
Fragile Momente
Unerwartete Hybride stehen bei der Designgalerie Mint im Stadtteil Brompton im Fokus. Bokeh – der japanische Begriff für bewusst erzeugte Unschärfebereiche in der Fotografie – heißt die Ausstellung während des diesjährigen Designfestivals. Der Sessel Achille von Pool Studio wirkt enorm voluminös. Die mit einem flauschigen Alpaca-Bouclé-Stoff bezogenen Polster setzen auf dem Boden auf und werden rückseitig von einem aus Messing oder Kupfer gefertigten Kubus angehoben. Hart und weich sind innig vereint. Der Paysan Table von Services Généraux kombiniert einen zylindrischen Betonsockel mit einer runden Platte aus farbigen Gurten, die derart festgezurrt und mit einer Ratsche fixiert sind, dass sie nicht nach unten fallen. Auf den ersten Blick scheint die Sitzfläche der Woven Bench von Max Lipsey aus geflochtenen Stoffbändern gefertigt zu sein, die lässig über dem Boden schweben. In Wirklichkeit verbergen die mehrfarbigen Canvas-Textilien von Kvadrat flache Metallstreifen, die dem Möbel Erdung und Stabilität verleihen.
Wandelnde Perspektiven
Auch das Serielle kommt in London nicht zu kurz: Tom Dixon zeigt den Messingtisch Mass sowie das gläserne Cocktailset Puck. Philippe Malouin stellt bei SCP den Sessel Puffer mit dazugehörigem Ottomanen vor, der an eine riesige Daunenjacke erinnert. Für atmosphärische Wärme sorgen die Kannen und Schalen aus der Serie Terracotta, die die japanische Keramikerin Reiko Kaneko ebenfalls für SCP gestaltet hat. Lee Broom begleitet die Präsentation seines Maestro Chair mit einem Film. 30 Musiker des Parallax Orchestra spielen auf den samtgepolsterten Möbeln – zum ersten Mal seit Ende des Lockdowns. „Stühle werden vor allem von der Rückseite betrachtet. Darum war mir diese Perspektive sehr wichtig, als ich an der Silhouette gearbeitet habe. Wenn man den Stuhl dreht, verändert er seine Erscheinung mit jedem Blickwinkel“, so der Londoner Designer, der Maestro fortan in seiner neuen Polsterwerkstatt im Osten der Stadt produzieren will.
Ideen für das Homeoffice
Eine überraschend große Bühne auf diesem Festival bespielt die Ausstellung Connected, die noch bis zum 11. Oktober im zentralen Atrium des Londoner Design Museum zu sehen ist. Der Verband für amerikanische Laubhölzer (American Hardwood Export Council) hat neun Gestalter eingeladen, eine Kombination aus Tisch und Sitzgelegenheit für das Homeoffice zu entwerfen. Die Entwürfe könnten unterschiedlicher kaum sein: Studiopepe schwelgen mit Pink Moon in poppigen Memphis-Gefilden. Sebastian Herkner nimmt seinem Stammtisch mit subtilen Rundungen das Rustikale. An die Wahl zwischen den drei Laubhölzern Roteiche, Ahorn und Kirsche haben sich alle bis auf Thomas Heatherwick gehalten: Sein Tisch Stem verfügt über eine gläserne Platte, die von sechs gedrehten Holzfüßen getragen wird, aus denen üppige Zimmerpflanzen emporwachsen.
Variation des Alltäglichen
Dem Charme des Alltäglichen ist die kleine Ausstellung The Misused Ironmongery Taiwanese X British Hardware gewidmet. Die Industriedesignerin Liang-Jung Chen hat schon frühzeitig in ihrer taiwanesischen Heimat ein Interesse an unscheinbaren Haushaltshelfern entwickelt und diese gesammelt. „Für mich ist es spannend zu sehen, wie diese Dinge auf unkonventionelle Weise verwendet werden“, erklärt die in London lebende Gestalterin. Als Beispiel nennt sie einen metallenen Schlüssel, der in Großbritannien zum Anlassen von Heizungen verwendet wird. In Taiwan dient er als mobiler Wasserhahn. Da viele Wasserstellen draußen angebracht sind, wird auf fest montierte Armaturen verzichtet, um einem Abzweigen durch Dritte Einhalt zu gebieten. Der Schlüssel wird zusammen mit anderen Arbeiten gezeigt, bei denen Liang-Jung Chen und der britische Designer Will Laslett einfache Haushaltshelfer in Schmuckdosen, Vasen oder Schalen verwandelt haben. Ergo: Es braucht nicht immer gleich den ganz großen Wurf. Auch aus unscheinbaren Modifikationen können spannungsvolle Dinge entstehen.
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