London Design Festival 2015: Best of Product
Wenn Wohnlichkeit Technologie umarmt: Die Neuheiten des Londoner Designfestivals.

Das Londoner Designfestival (19.-27. September 2015) vermischt Design, Handwerk und Kunsthandwerk zu einem atmosphärischen Cocktail. Sitzmöbel warten mit Geheimfächern auf. Tische lassen sich per Smartphone konfigurieren. Und TV-Geräte werden plötzlich wohnlich. Die wichtigsten Produkt-Neuheiten des Festivals haben wir vor Ort aufgespürt.
Auf dem Londoner Designfestival werden die Karten anders gemischt. Auch in diesem Jahr stehen weniger die etablierten Namen im Fokus – wenngleich sie an der Themse auch keineswegs fehlen möchten. Den Charme des Festivals machen vor allem die jungen Designer und Hersteller aus, die mehr und mehr aus der Nische nach vorne drängen und die Grenzen zwischen Industrie, Handwerk, Serienproduktion und Einzelstück verwischen lassen. Doch so ursprünglich zahlreiche Entwürfe aus Holz, Metall, Stein und Keramik anmuten: Auch die Schnittstelle zur Technologie wird ausgelotet.
Praktische Allianzen
Den Schulterschluss zwischen Produktdesign und Handwerk vollzieht der englische Möbelhersteller Benchmark in einer gemeinsamen Präsentation mit dem Hersteller 1882 Ltd. aus Englands Keramikhauptstadt Stoke-on-Trent. In einem von Kräutern bewachsenen Innenhof im Londoner Osten wird eine temporäre Töpferwerkstatt inszeniert, die die Faszination fürs Machen erlebbar werden lässt. Trotz des historischen Namens ist das Keramikunternehmen erst 2011 von Emily Johnson gegründet worden, als sie eine vor 133 Jahren begonnene Familientradition wieder aufgriff.
Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die von Kiki van Eijk entworfene Kollektion Ink‘d, deren Teller, Tassen und Karaffen von betont unvollendeten, animalischen Motiven überzogen sind. Den passenden Rahmen für das zerbrechliche Gut bildet die von Max Lamb entworfene Möbelfamilie Planks von Benchmark. Die aus geölter Eiche oder Douglasie gefertigten Bänke und Tische warten mit versteckten Ablagen unterhalb der Tischplatten und Sitzfläche auf. Geschirr und Utensilien lassen sich so auch ohne klobige Aufbewahrungsmöbel im Esszimmer unterbringen.
Auf archaischen Pfaden wandelt der englische Designer John Tildesley mit seinem Label Wild & Wood. Die aus massiver Eiche gefertigten Ablagen seines Concrete Shelving System sind durch U-förmige Klammern aus Beton eingefasst, die direkt an die Wand montiert werden. Einen Kontrapunkt zur materiellen Schwere setzt eine rückseitige LED-Beleuchtung, die die hölzernen Ablagen vor der Wand schweben lässt. Auf eine unverfälschte Materialästhetik setzt das mexikanisch-britische Designbüro Hieve mit dem Pie Chart System für H Furniture. Die Beistelltische und Aufbewahrungsmöbel basieren auf viertel- oder halbkreisförmigen Grundrissen und lassen sich zum Vollkreis gruppieren oder locker im Raum verteilen.
Hölzerne Digitale
Schwung in die Kategorie Holzmöbel bringt das junge polnische Möbellabel Tylko, das das Tischprogramm Hub von Yves Béhar in der Ausstellung Designjunction vorstellt. Die Besonderheit des Entwurfs sind weniger seine sanft abgerundete Tischplatte oder die wahlweise geraden oder an Perlenketten erinnernden Holzbeine. Es ist vor allem das Produktionsverfahren mit angeschlossener App, das den Möbelkauf nachhaltig verändern könnte. Anstatt den Kunden eine Auswahl starrer Grundmaße aufzuzwingen, können die Längen, Breiten und Höhen der Tische frei gewählt werden – ganz gleich, welch krumme Zahlenfolge hinter dem Komma erscheinen mag. Flexibilität steht auch bei den Details an vorderer Stelle, indem die Kunden den Verjüngungsgrad der Füße oder die Anzahl der zu fräsenden Holzperlen bestimmen können. Mithilfe der Software werden die Möbel virtuell auf ihren zukünftigen Standort im Wohnraum projiziert und lassen sich so präzise an die Architektur und an andere Möbelstücke anpassen. Im Anschuss werden die digitalen Daten an die Werkstatt weitergeleitet. Das Ergebnis ist eine Maßfertigung 2.0, die ohne teure Einrichtungsplaner einfach per Touchscreen gelingt.
Vermöbelte Technik
Technologische Einflüsse sind auf diesem Designfestival auch an anderer Stelle zu spüren. Zum Publikumsliebling avanciert das neue TV-Programm Serif, das Ronan & Erwan Bouroullec für Samsung entwickelt haben. Die Bildschirme werden von breiten Rahmen gefasst und damit zurück im Reich der Möbel verortet – wo die ersten Holzflimmerkisten ihren wohnlichen Ursprung hatten. Die Technik aus dem Status des Degenerierten zu befreien, ist auch das Ziel des dänischen Audioherstellers Artcoustic. Dessen High-End-Boxen stehen in einer breit gefächerten Farbpalette zur Auswahl, um sie an sämtliche Wandfarben und Untergründe genau anzupassen. Die stoffbespannten Verblendungen lassen sich zudem mit frei wählbaren Digitaldrucken personalisieren und je nach Präferenz als betont unsichtbare oder effekthascherische Begleiter in den Wohnraum integrieren.
Eine Lösung für die chronische Stromknappheit von Mobiltelefonen stellt Evoni Design mit dem Tischprogramm Chill & Charge auf der Messe 100% Design vor. In die Mitte der Ablagen sind kabellose Qi-Aufladegeräte eingelassen, mit denen Smartphones (Apple bietet den Standard zurzeit noch nicht an) durch induktive Energieübertragung zu neuen Kräften gelangen. Ein perfekt getarnter Stromspender ist in der Greek Street 19 im Stadtteil Soho zu sehen, wo ein Kollektiv von neun Designern seine Entwürfe in einem Townhouse präsentiert. Der Clou ist ein mit transparenten Solarzellen bedrucktes Schiebefenster, das die gewonnene Energie über ein gekringeltes Telefonkabel in einen im Fensterbrett versteckten Zwischenspeicher überträgt. Lediglich eine grün aufleuchtende Leuchtdiode sowie zwei USB-Anschlüsse offenbaren die zusätzliche Funktion dieser Objekt-Architektur-Liaison.
Handfeste Werte
Doch nicht jeder kann sich mit diesen technologischen Querverbindungen anfreunden. „Möbel und Technologie sind für mich ein Widerspruch. Die einen sollen langlebig sein. Die anderen sind schon nach kürzester Zeit wieder überholt“, zeigt sich Pavlo Schtakleff, Gründer des auf solide Materialien spezialisierten Möbellabels Sé, skeptisch. Zu 100 Prozent technologiefrei sind die Reeditionen des amerikanischen Möbeldesigners Ward Bennett, die Herman Miller sowohl im eigenen Showroom als auch in der Schau Designjunction präsentiert. Vor allem die Stahlmöbel wie der an einen Regiestuhl erinnernde Sled Chair sowie der in weiche Lederhäute eingewickelte Envelope Chair (beide 1966) überzeugen noch immer mit ihrer Leichtigkeit und Eleganz – und sind nebenbei weit weniger abgelutscht als viele omnipräsente Klassiker derselben Entstehungszeit.
Was bleibt von diesem Festival, ist eine klare Erkenntnis: Es sind weniger die formalen als vielmehr die materiellen Qualitäten, mit denen die Neuheiten punkten können. Indem die Regler für Sinnlichkeit und Haptik weiter nach oben gefahren werden, lassen sich selbst technologische Fremdkörper in den Alltag integrieren. Eine Alternative hat indes Jasper Morrison mit dem Mobiltelefon MP 01 für Punkt parat. Durch den Verzicht auf eine Internetverbindung werden die Benutzer nicht nur vor tagtäglicher Reizüberflutung und sinnlosem Verplempern von Freizeit bewahrt. Im Standby-Modus ist das Gerät beinahe einen gesamten Monat lang einsatzfähig – und macht die zusätzliche Verkabelung des Wohnraums obsolet.
Mehr Architektur und Design aus der britischen Hauptstadt finden Sie in unserem Themenspecial London Calling. Zum Special bitte hier klicken.
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Lauter zum Umfallen schöne Beiträge aus der britischen Hauptstadt
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