Die Humanistin
Erste Retrospektive von Charlotte Perriand in Deutschland eröffnet
Eine der raren Protagonistinnen der Moderne: Die Kunstmuseen Krefeld zeigen jetzt die Ausstellung „Charlotte Perriand. Die Kunst des Wohnens“ über die französische Gestalterin und Architektin. Wichtige Rollen spielen dabei die Alpen und der Stauraum.
Keine Frage, Charlotte Perriand war eine außergewöhnliche Gestalterin und Architektin. Sie bereiste die Welt, fand Inspiration in Japan oder Brasilien genauso wie in den Bauernhöfen auf Korsika. Sie plante und realisierte ein ganzes Skigebiet, von der Leuchte bis zum Hotel. Sie arbeitete über Jahre mit Le Corbusier und Jean Prouvé zusammen – und konnte sich trotzdem als unabhängige Stimme behaupten. Sie fotografierte, war begeisterte Sportlerin, bestens vernetzt mit Künstler*innen und Intellektuellen. Außerdem engagierte sie sich politisch.
Stauraum als Leitmotiv
Was sie aber als Entwerferin vielleicht am besten charakterisiert, ist ihre Beschäftigung mit Stauraum. Mochten die Männer Manifeste verfassen und Idealstädte projektieren – Perriand setzte sich über Jahrzehnte immer wieder damit auseinander, wie sich Schränke und Regale als Einzelmöbel oder modulare Systeme am besten in Wohnräume integrieren ließen. Von den ersten Metallschränken in den späten 1920er-Jahren bis zu ihren Nuage-Regalen – die vergleichsweise bescheidene Typologie des Stauraums zieht sich wie ein Leitmotiv durch ihre ganze Karriere. Und sie steht exemplarisch für Perriands Haltung, die Menschen und ihre Alltagsbedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Sie war Humanistin und Teamplayerin, bodenständig, integer und verantwortungsbewusst.
Die Kunstmuseen Krefeld widmen der Französin (1903 bis 1999) jetzt die erste Retrospektive in Deutschland. Unter dem Titel Die Kunst des Wohnens zeigt die Schau auf rund 1.500 Quadratmetern Fläche Perriands Möbel- und Raumentwürfe – chronologisch sortiert im Kaiser Wilhelm Museum und zu Einrichtungsinszenierungen arrangiert in Mies van der Rohes Haus Lange. Entlang von originalen Möbelstücken, Zeichnungen, Fotografien und Modellen entfaltet sich die gestalterische Biografie einer der raren Protagonistinnen der Moderne.
© FLC, VG Bild-Kunst, Bonn, 2025 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025
Die legendäre Modellwohnung
Stauraum war auch ein zentrales Element der legendären Modellwohnung, die Charlotte Perriand gemeinsam mit Le Corbusier und Pierre Jeanneret 1929 auf dem Salon d’Automne in Paris zeigte. Perriand arbeitete als junge Frau von 1927 bis 1937 für Le Corbusier, bis sie sein Büro aus politischen Gründen verließ. Der offene Grundriss der Wohnung, bei dem etwa Bad und Schlafzimmer direkt ineinander übergehen, wurde lediglich durch Raumteiler aus metallenen Kastenmöbeln gegliedert. L’Équipement intérieur d’une habitation war eine coole Raumvision, mit der die drei die damals avantgardistische Industrieästhetik zelebrierten. Als begehbare Eins-zu-eins-Rekonstruktion ist die Modellwohnung auch einer der Höhepunkte der Krefelder Ausstellung. Besucher*innen können sogar auf berühmten Stahlrohrmöbeln wie der Chaiselongue Basculante oder dem Fauteuil Pivotant Platz nehmen – dank des italienischen Möbelherstellers Cassina, der seit 1964 exklusiv die Möbelentwürfe von Perriand herstellt und zahlreiche Exponate nach Krefeld verliehen hat.
Einige der Möbel – wie die Chaiselongue oder auch die Grand Confort-Sessel – gelten als gemeinsame Entwürfe von Perriand mit Le Corbusier und Pierre Jeanneret. Spätere Stücke – wie die Tabouret-Hocker, die Freiform-Tische oder die Nuage-Regale – sind ihr alleiniges Werk. Über das Erbe Perriands und die Rechte an ihren Designs wachen die Archives Charlotte Perriand in Paris, geführt von Perriands Tochter Pernette Perriand-Barsac und ihrem Mann Jacques Barsac. Sie waren eng eingebunden in die Vorbereitung der von Katia Baudin mit Waleria Dorogova kuratierten Retrospektive und haben ebenfalls eine Reihe von Ausstellungsstücken zur Verfügung gestellt.
Refuge Bivouac und die Alpen
Eine andere begehbare Raumrekonstruktion in der Ausstellung, das Refuge Bivouac, verkörpert Charlotte Perriands lebenslange Begeisterung für die Gebirgswelt. Schon als Kind verbrachte sie viel Zeit bei den Großeltern in den französischen Alpen, später absolvierte sie Bergtouren. „Ich liebe die Berge zutiefst. Ich liebe sie, weil ich sie brauche“, so wird Perriand in der Ausstellung zitiert. „Sie waren immer der Gradmesser meines körperlichen und geistigen Gleichgewichts. Warum? Weil die Berge dem Menschen die Möglichkeit zur Selbstüberwindung bieten, die er braucht. Sie fördern den Teamgeist – die Seilschaft, in der jeder Einzelne für das Gelingen der Expedition mitverantwortlich ist.“
Mitte der 1930er-Jahre konzipierte Perriand das Refuge Bivouac mit dem Ingenieur André Tournon als vorfabrizierte Minimalbehausung für die Berge. Außen aus Aluminiumblech und innen mit Holz ausgebaut, bietet es auf kleinstem Raum alles Notwendige: vom Tisch über die Kochstelle bis zum Schlafplatz und den Regalen. Erholung in der Natur sollte allen Menschen zugänglich sein, davon war sie überzeugt. Dieses Thema bekam noch viel mehr Raum, als Perriand ab 1967 an ihrem größten Projekt arbeitete, dem Skiort Les Arcs in den Savoyen. Über zwanzig Jahre lang leitete sie die Planungen und entwarf zudem diverse Hotel- und Apartmentgebäude. Sie verfügen über kompakte, aber gut ausgestattete Wohneinheiten, die zum Teil mit vorgefertigten Bad- und Küchenmodulen möbliert waren. Eines der originalen Küchenmodule in kräftigem Rot ist auch in der Krefelder Ausstellung zu sehen.
© FLC, VG Bild-Kunst, Bonn, 2025 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2025
Ausstellung im Kaiser Wilhelm Museum und Haus Lange
Die chronologisch-museale Präsentation von Charlotte Perriand. Die Kunst des Wohnens im Kaiser Wilhelm Museum wird ergänzt durch die zweite Station im Haus Lange. Die von Ludwig Mies van der Rohe Ende der 1920er-Jahre gemeinsam mit dem benachbarten Haus Esters entworfene Industriellenvilla dient seit 1955 als Ausstellungsort der Kunstmuseen Krefeld. Mit der Perriand-Retrospektive wird nun an die ursprüngliche Funktion des modernistischen Baus als großbürgerliches Wohnhaus erinnert.
Die Möbel Perriands sind im Erdgeschoss zu Ess-, Wohn- oder Arbeitssituationen arrangiert, ergänzt mit Objekten von Kolleg*innen und Weggefährt*innen wie Fernand Léger, Le Corbusier oder Isamu Noguchi. Das ehemalige Zimmer der Dame beispielsweise ist mit einem Petit bureau en forme libre, einem kleinen Schreibtisch, und einem Doron-Sessel wieder als nobles Homeoffice möbliert. Ein Nuage-Regal mit Aluminiumelementen teilt den Essbereich vom repräsentativen Wohnraum ab. Auch Perriands Arbeit in Japan und Brasilien und für die Pariser Designgalerie von Steph Simon finden im Haus Lange ihren Raum. Perriand war, in ihrer lebenslangen, schier unerschöpflichen Neugierde und Vielseitigkeit, wirklich eine außergewöhnliche Gestalterin.
Die Ausstellung Charlotte Perriand. Die Kunst des Wohnens ist noch bis zum 15. März 2026 im Kaiser Wilhelm Museum sowie im Haus Lange zu sehen. Im benachbarten Haus Esters, ebenfalls ein Bau von Ludwig Mies van der Rohe, wird eine ergänzende Ausstellung mit Positionen aus der Designsammlung der Kunstmuseen Krefeld gezeigt.
Kaiser Wilhelm Museum
kunstmuseenkrefeld.deMehr Stories
Harmonische Kompositionen
Durchgefärbtes Feinsteinzeug als verbindendes Element im Raum
Der Funke springt über
Wenn Designerinnen schweißend ihren eigenen Weg gehen
Revival der verlorenen Formen
Besuch der Ausstellung Fragmenta in einem Steinbruch bei Beirut
Neue Atmosphären
Berliner Architekt Christopher Sitzler gewinnt Best of Interior Award 2025
Innovation als Erfolgsrezept
Bauwerk Parkett feiert 90-jähriges Jubiläum
Räume, die sich gut anfühlen
Mit Wohnpsychologie und Palette CAD schafft Steffi Meincke Räume mit Persönlichkeit
Von der Bank zum Baukasten
COR erweitert die Möbelfamilie Mell von Jehs+Laub
Eine Bühne für junge Talente
Maison & Objet feiert 30 Jahre und setzt auf Nachwuchs
Flexibilität in der Gestaltung
Beispielhafte Projekte setzen auf Systembaukästen von Gira
MINIMAL MASTERS
Wie die Shaker mit klaren Werten und asketischem Stil das Design prägen
Schatz in der Fassade
Warum der Austausch historischer Kastendoppelfenster ein Fehler ist
Von rau bis hedonistisch
Wie verändert die Kreislaufwirtschaft das Interiordesign?
Neue Impulse setzen
DOMOTEX 2026 präsentiert sich mit erweitertem Konzept
Der Stuhl, der CO₂ speichert
Mit einer Sitzschale aus Papier setzt Arper neue Maßstäbe für nachhaltige Materialien
Digitale Werkzeuge in der Innenarchitektur
Wie ein Schweizer Büro Planung, Präsentation und Produktion verbindet
Natursteinästhetik in Keramik
Fünf neue Oberflächen erweitern das Feinsteinzeug-Programm des Herstellers FMG
Creative Britannia
Unterwegs auf der London Craft Week und Clerkenwell Design Week
Auf stilvoller Welle
Ikonische Tischserie wave für exklusive Objekteinrichtungen von Brunner
Spektrum der Ruhe
Wie nachhaltig sind farbige Möbel?
Rauchzeichen aus dem Abfluss?
Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann
Design als kulturelles Gedächtnis
Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand
Alles Theater
Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025
Zurück zur Kultiviertheit
Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand
Dialog der Ikonen
Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet
Leben im Denkmal
Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum
Mission Nachhaltigkeit
Stille Materialrevolutionen bei Vitra
Zwischen Zeitenwende und Tradition
Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings
Spiel der Gegensätze
Best-of Outdoor 2025
Outdoor mit System
Clevere Lösungen für Außenbereiche von Schlüter-Systems
ITALIENISCHE HANDWERKSKUNST
Mit Möbeln, Leuchten und Textilien gestaltet SICIS ganzheitliche Wohnwelten