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Zurück zur Kultiviertheit

Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Die Mailänder Möbelmesse richtet den Blick auf die Moderne. In unsicheren Zeiten zählt das Versprechen einer positiven Zukunft. Und so erstrahlen Stahlrohrklassiker in neuen Farben. Zeitlosigkeit ersetzt vergänglichen Konsum. Es geht darum, die Sinne zu schärfen und das Zuhause mit Sinn aufzuladen.

von Redaktion , 16.04.2025

Schlangen, Schlangen, Schlangen, wohin man auch blickt. Doch keine Angst, es sind keine giftigen Exemplare, die sich den Weg aus dem Zoo nach Mailand gebahnt haben. Vielmehr reihen sich die designaffinen Besucher*innen gerne dreimal um den Häuserblock oder um den Messestand, um Blicke auf die Neuheiten des Jahres zu erhaschen. Die Möbelfirmen agieren wie Nachtclubs. Je größer die Menschentraube vor der Tür, umso höher die Erwartungen. Verknappung ist die raffinierteste Art, Begehren zu wecken. In diesem Falle ist es eine Strategie, das Design zu adeln.

Suche nach Optimismus
Denn natürlich wird das Wohnen 2025 nicht neu erfunden. Es wird aber wieder in ein neues Licht gerückt. Protagonisten sind in diesem Jahr die stahlharten Typen – besser bekannt unter dem Namen Freischwinger. Die Zwanzigerjahre-Ikonen dürfen nun mit visueller Weichheit punkten. Geopolitik ist normalerweise kein wirkliches Gestaltungsthema. Diesmal aber schon. Nur wenige Tage vor der weltgrößten Designschau wurden drakonische Zölle für den Weltmarkt verkündet und weiterhin toben Kriege. Unsichere Zeiten verlangen nach verlässlichen Lösungen. Und so rückt wieder die Moderne in den Fokus, die schließlich mit zwei Argumenten punkten kann: ihrem unbestrittenen Klassiker-Status und einer Haltung, die stets „ja“ zur Zukunft sagte; die das Morgen nicht als Bedrohung, sondern stets als Chance begriff.

Ruf der Zwischentöne
Doch nun zu den Farben: Bei Cassina erstrahlen die Möbelgestelle von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand in poppigen, schimmernden Metalltönen – 60 Jahre nachdem der italienische Möbelhersteller sie in Produktion nahm. Präsentiert wurden sie in einer von Formafantasma inszenierten Performance im Teatro Lirico Giorgio Gaber mit dem treffenden Namen Staging Modernity (mehr dazu im Beitrag Alles Theater). Die Botschaft: Weg vom Zahnarztpraxen-Look der Achtzigerjahre, kein schwarzes Leder mit Chrom, sondern farbiges Metall. Und wenn Chrom verwendet wird, dann in Kombination mit farbigen Samtstoffen oder strukturierten Leinenoptiken, die die Kälte des Stahls brechen.

Es geht um die feinen Nuancen, nicht die lauten Töne: Genau hier ist Jil Sander ganz in ihrem Element. Die deutsche Modedesignerin hat die Marcel-Breuer-Freischwinger S64 (1929/1930) von Thonet überarbeitet. In der Ausführung Serious werden Gestelle in glänzendem Titan mit gepolsterten Sitzflächen und Rücken kombiniert. Deren hölzerne Einfassungen sind ebenso wie die Armlehnen in raffinierte, farbige Lackoberflächen getaucht: von sinnlichem Bordeaux über ein sattes Grün bis hin zu einem geheimnisvollen Dunkelblau, stets in der Tiefe von Pianolack. „Ich wollte die Klassiker nicht neu erfinden. Mir geht es um Veredelung“, erklärt Jil Sander ihren Ansatz.

Volle Knautschzone
Bei den neuen Polstermöbeln dominieren weiterhin ausladende, fette Formen, die den Körper wie eine Schutzhülle umschließen. Der Sessel Clara, den Federica Biasi für Frigerio gestaltet hat, wirkt derart prall gefüllt, als wäre er mit der Luftpumpe bis kurz vor dem Zerplatzen aufgeblasen. So entsteht eine visuelle und haptische Komfortzone, die zugleich Anklänge an die poppigen Luftballon-Skulpturen von Jeff Koons ins Wohnen transferiert. Eine weitere Lieblingszutat bei Sitzmöbeln ist der Wulst. Und der kommt vor allem im Plural zum Einsatz, wie beim Sofa Biboni, das das kalifornische Büro Johnston Marklee für Knoll International entworfen hat.

Auch hier greift eine doppelte Referenz: Auf der einen Seite das Michelin-Männchen. Auf der anderen Seite der Sessel Bibendum von Eileen Gray, der 2026 sein einhundertjähriges Jubiläum feiert und sich auf eben jenen Werbeklassiker bezieht. Doch auch die Arbeiten von Marco Zanuso, Gio Ponti und Tobia Scarpa werden von vielen heutigen Designer*innen als Vorbilder erkoren. „Same, same – but different“, so lautet die Losung. Da wundert es kaum, dass die Zahl der Reeditionen eine erstaunliche Höhe erreicht hat. Diese punkten immerhin mit dem Status eines Originalentwurfs, selbst wenn sie jahrzehntelang in den Archiven schlummerten, wie der Loden Chair (1961) von Vico Magistretti, den Kettal neu aufgelegt hat. Und Anthony Vaccarello, Chefdesigner des Modelabels Saint Laurent, hat vier bislang unveröffentichte Entwürfe von Charlotte Perriand aufleben lassen.

Erhabene Räume
Noch etwas fällt auf: Möbel werden stets im Zusammenspiel mit Kunst gezeigt. Sofas sind mit kleinen Tischen und Ablageflächen unterbrochen, um darauf Skulpturen positionieren zu können. Regale, Sideboards und Wandpaneele werden so positioniert, dass sie Platz für Gemälde lassen, die jetzt an fast allen Ständen der großen Möbelfirmen eigene Kurator*innen-Teams aussuchen. Das schafft Atmosphäre – und lenkt natürlich den Blick ein wenig weg von den Möbeln. Es geht um das Gesamterlebnis Raum, der hier in das imaginäre Zuhause von Sammler*innen entführt. Das hat Auswirkungen auf das Sitzen: Polstermöbel zeigen oft fließende Konturen, distanzieren sich von strenger Geometrie. Sofas sind gebogen oder setzen sich aus zwei Sitzflächen zusammen, die im stumpfen Winkel aufeinandertreffen. Sie optimieren die Blickkontakte der Sitzenden und beflügeln somit die Konversation. Es soll diskutiert und die gemeinsame Zeit genossen werden, statt stumpf eine Streaming-Serie nach der anderen zu konsumieren.

Gekonntes Ungleichgewicht
Ganz wichtig hierbei: Immer mehr Sofalandschaften setzen auf Asymmetrie. Damit ist keineswegs die klassische L-Form mit verlängerter Beinablage an einem der beiden Enden gemeint. Vielmehr folgen die miteinander verbundenen Polsterbausteine unterschiedlichen Zuschnitten und lockern so das Gesamtbild auf. Das Wohnzimmer erhält eine organische Komponente. Strenge Geometrie hat bei Polstermöbeln nichts zu suchen, weder in der Form von Sofas und Sesseln noch in ihrer Ausrichtung im Raum. Alles, nur kein Rasterfetischismus! Auf gekonntes Ungleichgewicht setzen Tische mit asymmetrischen Sockeln, die die Tischfläche durchbrechen und sich dort als Muster abzeichnen. Das Konstruktive wird zum Dekorativen.

Eine neue Softness erfasst auch das Homeoffice: Mit kompakten Schreibtischen, die mit gebogenen Platten aufwarten. Selbst Esstische ziehen mit voluminösen, bauchigen Sockeln die Blicke auf sich. Transparente Glasplatten – gerne auch in dunklen Tönungen – unterstützen die Wirkung der skulpturalen Trägerstruktur. Bei Holzstühlen darf es ruhig etwas geradliniger sein, wie beim Model SOL von Konstantin Grcic für Plank. Doch auch hier kommen an den Innenseiten der Lehnen subtile Kurven zum Einsatz, um den Armen beim Ablegen eine komfortable Position zu geben und nicht alles der Klarheit der Geometrie zu unterwerfen. Die Moderne ist auch hier präsent, doch sie wirkt weniger rigide, sondern auf subtile Weise verspielt.

Zurück zum Wort
Die Sehnsucht nach Kultiviertheit holt ein Möbelstück zurück in den Ring, das in den letzten Jahren eher als Relikt aus vergangenen Zeiten angesehen wurde: das Bücherregal. Dazu passen auch die Veranstaltungen dieser Milan Design Week. So diente ein restaurierter Gio Ponti-Zug aus den Fünfzigerjahren als Setting für das von Formafantasma geleitete Diskussions-Forum Prada Frames, während Miu Miu im Circolo Filologico Milanese einen Literaturclub ausrichtete. In raumgreifenden Dimensionen spannen sich die neuen Bücherwände von Boden zu Decke, von einer Wand zur anderen. In den Stauraummöbeln wird kein Nippes vom Flohmarkt oder vom letzten Sommerurlaub präsentiert, sondern Bücher, die ihre Besitzer*innen auch gelesen haben – oder zumindest glaubwürdig den Anschein erwecken. Damit bringen sie die Haltung dieser Salone del Mobile-Neuheiten treffend auf den Punkt. Es geht darum, die Sinne zu schärfen. Und auch: das Zuhause mit Sinn aufzuladen.

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