London Design Festival 2016: Die Stunde der Macher
Machen, Machen, Machen: Die Neuheiten vom London Design Festival.
Auf dem London Design Festival sorgen weniger die etablierten Marken für Aufsehen. In den Mittelpunkt rückt vielmehr eine neue Generation von Machern, die die Grenze zwischen Design und Kunsthandwerk ad acta legt und mit sinnlichen, imperfekten und lokal gefertigten Produkten die Konsumenten direkt anspricht. Prominente Unterstützung hat die Bewegung in diesem Jahre von einem Giganten aus der Modewelt erhalten.
Das London Design Festival feiert das Machen. Vorbei die Zeit, als junge und nicht mehr ganz so junge Gestalter um die Gunst der großen Firmen buhlten, um ihre Ideen in die Serie zu bringen. Wer heute etwas auf sich hält, nimmt die Dinge selbst in die Hand – und zwar auf überaus direkte Weise. Und so verschiebt sich der Fokus von industriell gefertigten Dingen immer mehr in Richtung Kunsthandwerk, das gleich mit mehreren Argumenten punkten kann. Nummer eins: Die Produkte werden von den Machern in ihren eigenen Werkstätten hergestellt. Das wirkt sympathisch und authentisch, weil die anonyme Warenwelt auf einmal ein menschliches Gesicht erhält. Nummer zwei: Die vergleichsweise überschaubaren Stückzahlen garantieren einen Hauch von Exklusivität, ohne gleich in die Bling-Bling-Ecke abzudriften.
Natürliche Zerbrechlichkeit
Der dritte, ausschlaggebende Punkt heißt Individualität. Unter den Gestaltern ist ein regelrechter Wettkampf ausgebrochen, den Zufall in den Herstellungsprozess mit einzuweben und somit die Produkte in den Status eines Unikats zu erheben. "Es ist auch für uns nach jahrelanger Erfahrung immer wieder überraschend, was bei der Fertigung herauskommt", sagt der englische Glasgestalter Max Jacquard. Für die Herstellung seiner Schalen und Gefäße ist er in die Natur gefahren und hat Abdrücke von Moosen oder Baumrinden genommen. Wird die flüßige Glasmasse in die Formen gegossen, überträgt sich die haptische Textur auf das fragile Material und verleiht ihm eine raffinierte, matt schimmernde Erscheinung.
Scherben und Strukturen
Neben Glas rückt zunehmend Keramik in den Mittelpunkt. "All that is broken is not lost", betitelt die japanische Designerin Reiko Raneko ihre Ausstellung in einer kleinen Galerie im Londoner Osten. Die Ränder zerbrochener Keramiken wurden von ihr mit einer traditionellen, japanischen Lacktechnik überzogen, die die „Schnittwunden“ als Mattgold schimmerndes Dekor neu in Szene setzt. „No Ordinary Love“ heißt die von Martino Gamper kuratierte Ausstellung, der ein Keramikworkshop mit befreundeten Designern wie Max Lamb, Faudet Harrison, Bethan Wood und anderen vorausging. Um den gemeinschaftlichen Aspekt zu verstärken, werden die Vasen und Schalen zu zwei verschiedenen Konditionen angeboten: Für den Normalpreis bleiben die Designer anonym. Sind die Kunden hingegen bereit, den doppelten Preis zu bezahlen, wird ihnen der Name mit Bitte um Diskretion mitgeteilt.
Extraterrestrische Spielfelder
Keine Frage an der Urheberschaft stellt sich bei den Schalen, Tellern und Gefäßen des jungen Dänen Troels Flensted. Die Objekte werden aus mineralischem Pulver und wasserbasiertem Acrylpolymer gefertigt und vor dem Einlassen in die Form mit farbigen Pigmenten versetzt. Dieser Prozess lässt ein individuelles wie zufälliges Muster entstehen, sodass kein Objekt dem anderen gleicht. Für die Serie Tektites experimentiert das Studio Furthermore mit einem Material, das bislang eher in extremen Anwendungen wie den Befestigungen von Spiegeln an Weltraumteleskopen zum Einsatz kommt: Keramikschaum. Durch den Einsatz einer speziellen Imprägnierung entsteht beim Brennen und Erkalten eine poröse Oberfläche, die an Meteoriten denken lässt. „Die Objekte fühlen sich wie Steine an und sind doch verblüffend leicht“, beschreiben die Designer ihre vermeintlich extraterrestrischen Kreationen.
Vielseitiges Holz
Wie Artefakte aus einer anderen Zeit muten die Holzobjekte von Forest Found an. Das 2014 von Max Bainbridge und Abigail Booth gegründete Unternehmen hat sich auf handgefertigte Schalen, Löffel, Kellen und Gefäße spezialisiert, die mit extrem unregelmäßigen, haptischen Oberflächen aufwarten. Die Schnittstelle von Natur und Künstlichkeit erkundet der Berliner Designer Lukas Wegwerth mit seiner Ausstellung Blankenau in den Räumen der Designgalerie Fumi am Hoxton Square. Baumwurzeln wurden von ihm zersägt und zu langen, verschlungenen Bändern neu zusammengesetzt. Die schwarz lackierten Gebilde dienen als Ablage für gläserne Tischplatten und entfalten eine geheimnisvolle wie vertraute Wirkung.
Eine materielle Neukomposition ist im ME Hotel gegenüber vom Somerset House zu sehen – der Spielstätte der diesjährigen, ersten Londoner Design-Biennale. Das kanadische Designbüro UUfie lässt bei seinem Echo Table Holz und flüssiges Metall miteinander verschmelzen. Die runden Tischplatten vollziehen einen atmosphärischen Verlauf von glatten, metallenen Außenrändern zu stark strukturierten Holzkernen, auf denen sich die Baumringe als markantes Muster abzeichnen. Das Ergebnis ist verblüffend, weil das ungleiche Materialduo tatsächlich ein zusammenhängendes Ganzes bildet und keine Unterscheidung seiner Einzelteile mehr erlaubt.
Poppiger Elektro-Wind
Wie die Rückbesinnung aufs Handwerk mit Ironie gepaart wird, zeigt der Niederländer Tord Boontje. In den Räumen seines Londoner Studios in Shoreditch nimmt die Ausstellung „Electro Craft“ die Wechselwirkung aus archaischer Materialität und technischen Komponenten unter die Lupe. Das Ergebnis ist eine augenzwinkernde Inszenierung, die zwar keine massentauglichen Begleiter für den Alltag bereithält, doch dafür taktile, sinnliche Qualitäten in die Welt der Elektronik einbringt. Boontje selbst stellt das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Yamaha vor. Die tragbaren Hairy Creature Speakers verbergen die Lautsprecher unter dichter Haarpracht und werden von einem Haltegriff in Form einer runden Radioantenne gekrönt. Die türkische Designerin Bilge Nur Saltik präsentiert mit ihren Loud Objects eine Gruppe von Bluetooth-Lautsprechern, die ebenfalls in ungewöhnlicher Form und Materialität daherkommen: Als kompakte Beistelltische und Kerzenständer aus vielfarbigen Marmorschichten, die als schwergewichtige Resonanzkörper dienen.
Imperfektion durch Perfektion
Für einen funkelnden Auftritt sorgt das Londoner Designerduo Fredrikson Stallard. In den Studioräumen im Stadtteil Clerkenwell wird die Glaciarium Collection für Swarovski vorgestellt, wo ebenso nicht nur das fertige Produkt zählt, sondern vielmehr der Weg dorthin. „Es war das erste Mal, dass das Unternehmen externe Designer eine Kristall-Komponente entwerfen ließ“, sagt Patrik Fredriksson. Auch hier geht die Tendenz weg von glatten Schliffen hin zu einer unregelmäßigen, beinahe roh erscheinenden Silhouette und Oberflächenstruktur, die Imperfektion durch Perfektion suggeriert. Mit den opulenten Leuchtern Avalon, Helios, Superline und Voltaire haben Fredrikson Stallard sogleich die Praktikabilität und Wirkung der neuen Kristallbausteine unter Beweis gestellt.
Premiere im Maker House
Die Stunde der Macher schlägt längst nicht nur in den etablierten Festival-Standorten Designjunction, London Design Fair oder 100% Design. Im Anschluss an die Herbst-Winter-Modenschau 2016 öffnet das Modeunternehmen Burberry im Stadtteil Soho für eine Woche die Türen seines Maker House. Vor den Augen der Besucher fertigen Kunsthandwerker Keramiken, Metallarbeiten, Seidenmalereien oder Sattlerarbeiten an, die wie die neuen Kleider von Virginia Woolfs Roman Orlando inspiriert und vor Ort erhältlich sind.
Das Interessante ist hierbei die unmittelbare Erfahrung der handwerklichen Produktion. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ein milliardenschweres, börsennotiertes Modeunternehmen eine temporäre Submesse für Kunsthandwerker öffnet. Doch es zeigt, wie groß die Sogkraft des Handfesten und Echten inzwischen geworden ist. Die Folge ist, dass kleine Ein- bis Zweimannwerkstätten auf einmal eine Bühne erhalten, die ihnen nicht nur neue Aufmerksamkeit verschafft. Die Fertigung von Alltagsgegenständen, so die Botschaft dieses Festivals, wird dauerhaft facettenreicher.