Die Utopie im Alltag
Die London Design Biennale ging in ihrer ersten Ausgabe auf die Suche nach dem Verhältnis von Utopie und Design.
Wird Design endlich politisch? Steht uns eine Einmischung der Gestalter in die gesellschaftliche Diskussion bevor? Für die Macher der London Design Biennale (LDB) ist die Sache klar: „Die Biennale erkundet die großen Fragen und Ideen um Nachhaltigkeit, Migration, Umweltverschmutzung, Energie, Städte und soziale Gleichheit.“ Kleiner geht Debatte heute kaum noch. Das Thema „Utopia by Design“ der ersten Ausgabe der Biennale ergibt dennoch Sinn. Mit den Mitteln des Designs diskutieren über den Zustand dieser oder einer anderen Welt – Institutionen und Designer aus 37 Nationen haben die Herausforderung der Biennale angenommen.
Das Somerset House als Ausstellungsort ist historische Kulisse, der utopische Ansatz auch. Die Veranstalter suchen mit dem Thema nach 500 Jahren den Bezug zu Thomas Morus, der 1516 in seinem Werk Von der besten Verfassung des Staates und von der neuen Insel Utopia eine ideale, zumindest jedoch eine von den bestehenden Verhältnissen abweichende Gesellschaft entwirft. Utopie als ideale Abweichung. Ein Traum, ein Glücksfall, eine große Idee, die in der Realität kaum erreichbar ist. In den Beiträgen zur LDB schrumpft die Vorstellung von Utopia auf kurzfristige Ziele und alltägliche Szenarien. Selten mit offenem, weitem Blick, oft gegenwärtig und leider hin und wieder auch nur banal.
Installation in Schwarz und Weiß
Konstantin Grcic zeichnet als Kurator und Gestalter für den deutschen Beitrag Utopia means elsewhere verantwortlich. Der Münchener Designer hat eine Installation in Schwarz und Weiß erdacht. Zwei ästhetisierte Räume, die Platz lassen für eigene Wahrnehmungen und Gedanken der Besucher. Grcics These: „Utopie entzieht sich jeglicher Abbildung, sie bewegt sich stets im Bereich der subjektiven Interpretation.“ Die Utopie als intellektuelle Konstruktion wird umkreist, vor dem digitalen Feuer können die Besucher dann über eigene Utopie(n) sinnieren.
Utopie ohne Umsetzung
Können also Design und die Designer qua Selbstverständnis überhaupt Utopien liefern? Oder bleibt der Entwurf von (gesellschaftlichen) Möglichkeiten doch ein Spielfeld von Philosophie oder Kunst oder Politik? Als Formgeber für Utopien taugt Design eigentlich schon, wie beispielsweise der Beitrag von Russland aus der Vergangenheit heraus zu belegen versucht. Das Moscow Design Museum öffnet erstmals seit dem Ende der Sowjetunion ein Archiv mit Arbeiten russischer Designer aus den 1960er bis 1980er Jahren. Die meisten der Entwürfe und Projekte – einige durchaus mit utopischer Perspektive – wurden nie realisiert. Vor allem wohl wegen der wirtschaftlichen Beschränkungen, da half auch die staatliche Organisation der Design-Aktivitäten nicht. Was nützt also die größte Utopie, wenn kaum jemand an der Umsetzung interessiert oder dazu fähig ist?
Mentale Grenzüberschreitungen
Utopien sind mentale Grenzüberschreitungen. Der LDB-Beitrag von Mexiko liefert die praktische Dimension gleich dazu. Während im aktuellen amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf der republikanische Kandidat von einer Grenzmauer zum südlichen Nachbarland fabuliert wird, kommt Mexiko mit der Vision einer Border City daher. Einer bilateralen Stadt, die gemeinschaftlich Antworten auf all die lang bekannten Fragen an der Schnittstelle der beiden Systeme gibt. Nicht die Vorstellung der praktischen Umsetzung breitet hier Schwierigkeiten, dafür haben Design und Architektur allerlei Lösungen parat. Utopisch erscheint heute noch die offene und konstruktive Auseinandersetzung der unterschiedlichen Gesellschaften mit der schleichend schwieriger werdenden Situation. Je gegenwärtiger und klarer Utopien sind oder beschrieben werden, umso deutlicher werden entgegenstehende Zwänge und Hindernisse.
Alltag als gelebte Utopie
„Die Auftakt-Biennale ist mehr Realität als Traum“, stellt Paolo Antonelli, Senior-Kurator am MoMa New York und Jury-Mitglied der LDB, denn auch fest. In den meisten Beiträgen sei der Weg in eine bessere Zukunft nicht durch eine „mächtige und absolute Vision“ vorgezeichnet, sondern führe durch Betrachtung vergangener Konstellationen und Anerkennung gegenwärtiger Positionen. Ganz so wie im ausgezeichneten Beitrag des Libanon. AKK Architekten haben dazu eine Rekonstruktion eines Ausschnitts des Beiruter Stadtlebens vor das Somerset House an die Themse gestellt hat. Antonelli würdigt dieses lebendig bunte Abbild als „immer funktionierende theatralische List“, die „die Utopie im täglichen Leben“ feiere. Der Alltag als gelebte Utopie, eine beruhigende Vorstellung.
Utopien durch kleine Verbesserung
Auch der ebenfalls ausgezeichnete Schweizer Beitrag, ein Gemeinschaftsprojekt von sieben Designstudios mit jeweiligen Industriepartnern, sucht unter dem Titel In-between: The Utopia of the Neutral nach einer dynamischen Beziehung zwischen Utopie und Alltag. Bei allem spekulieren über das Neutrale als „Katalysator für Dialog und Bewegung“ und das „Dazwischen“ als Raum ohne Bedingungen darf der Verweis auf Max Bills Utopie von der „Guten Form“ als Referenz nicht fehlen. Unterm Strich bleibt für die Schweizer so das unablässige Mühen. Utopien lassen sich nicht nur durch große Umwälzungen sondern möglichweise sogar erfolgreicher durch andauernde kleine Verbesserung erreichen.
Anders ausgedrückt: Utopien machen Mühe, die Debatten darum auch. Umso wichtiger ist es, dass mit der London Design Biennale ein neues Format gefunden ist, das Design jenseits unendlicher Produktpräsentation ernsthaft diskutiert. Der Zuspruch der Besucher sowie die Vielfalt der präsentierten Positionen belegen, dass die Auseinandersetzung um die gesellschaftliche Wirkung von Design hoch willkommen ist.