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Ruf der Falte

Paravent-Ausstellung in der Fondazione Prada Mailand 

Paravents sind die wahren Multitalente in der Inneneinrichtung. Die Fondazione Prada in Mailand widmet ihnen nun eine große Ausstellung an der Schnittstelle von Kunst und Design. Das fluide Raumprogramm stammt von SANAA.

von Norman Kietzmann, 01.11.2023

Kein anderes Möbel hat das Interesse von Künstler*innen und Designer*innen gleichermaßen erweckt: Der Paravent ist ein Grenzgänger zwischen den Disziplinen. Er bringt die Fläche in den Raum, ist halb Leinwand, halb Skulptur. Vor allem: Er bildet ein Mittel der Kommunikation durch die Aktivierung seiner Oberflächen. Zudem vermag er Räume zu trennen, ohne sie zu verschließen. Ein paar Handbewegungen genügen, um neue Raumkonfigurationen zu erzeugen. Kurzum: Paravents haben keine endgültige Position oder Form. Sie sind stets bereit für die nächste Transformation.

Orient trifft Okzident 
„Die Geschichte des Paravents ist eine Geschichte der kulturellen Migration von Ost nach West, der Hybridisierung zwischen verschiedenen Kunstformen und Funktionen und des Wechselspiels aus Verborgenem und Offenem. Dabei werden die starren Unterscheidungen und Hierarchien zwischen den verschiedenen Disziplinen der Kunst und Architektur, der Dekoration und des Designs aufgehoben“, sagt Nicholas Cullinan, Kurator der Ausstellung Paraventi: Folding Screens from the 17th to 21st Centuries. 70 Paravents sind in der Mailänder Fondazione Prada zu sehen. Tatsächlich ist die Anzahl höher. Denn auch das Ausstellungsdesign spielt mit derselben Typologie.

 
Japanische Infusion 
Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa, die beiden Gründer*innen von SANAA Architects in Tokio, haben im Erdgeschoss des Podium Building (entworfen von OMA/Rem Koolhaas) mehrere geschwungene Trennwände aus transparentem Plexiglas eingezogen. In Schlangenlinien durchschneiden sie den Raum, zwingen so zu Richtungswechseln, fassen Objekte zu Werkgruppen zusammen. Die Reflexionen von einfallendem Sonnenlicht oder von Spotlights in den Abendstunden laden die immateriell anmutenden Plexiglas-Wände mit kurz aufblitzender, physischer Präsenz auf. An denjenigen Stellen, wo Videoprojektionen zum Einsatz kommen, setzen lichtabsorbierende Vorhänge die schlängelnden Bewegungen der Plexiglas-Wände fort. 
 
Wechselspiel der Zeit
Den Auftakt macht die Gegenwart. Die chinesische Künstlerin Cao Fei interpretiert den Paravent mit Screen Autobiography (Milan) (2023) als ein mehrfach auseinander gefaltetes Smartphone oder Tablet, auf dem bewegliche „Tapeten“-Muster zu sehen sind. Zugleich gibt sie einen ironischen Kommentar auf die „Größensucht“ der Tech-Nutzer, die sich in den Dimensionen ihrer Devices zu übertrumpfen versuchen. Frei nach dem Motto: Wenn schon XXXL-Handy, dann bitte als Paravent! Andere Arbeiten von John Stezsker, Joan Jonas oder Wu Tsang nutzen den Sichtschutz als Projektionsfläche, um das Medium Film ganz ohne 3-D-Brille in die räumliche Dimension zu erweitern. 
 
Dekor und Scham 
Eine weiterer Abschnitt, den SANAA mit Plexiglas-Wänden abgetrennt hat, widmet sich dem Thema Intimität. Hier ist der Paravent The Legend of the Good Women zu sehen, der 1860 vom britischen Arts-and-Crafts-Pionier William Morris entworfen und von Elizabeth Burden nach mittelalterlichen Vorbildern bestickt wurde. Der Shame Paravent (2023) von Anthea Hamilton ist aus Pferdehaaren gearbeitet, die die Künstlerin als Sinnbild für Selbstpeinigung sieht. Camp-Ästhetik wird durch die Arbeit World of Cats (1966) des britischen Schauspielers, Schriftstellers und Collagisten Kenneth Halliwell aufgegriffen. Francesco Vezzoli rückt mit The Assassination of Trotzky (2023) dem marxistischen Revolutionär das Glamour-Paar Alain Delon und Romy Schneider zur Seite – gedruckt auf spiegelnde Übergründe.  
 
Gefaltete Ideologie 
Dass die Typologie des Paravents eine politische Dimension erzielen kann, zeigt die Rubrik Propaganda. The Conquest of Mexico by Hermán Cortés ist eine monumentale Arbeit von Pedro de Villegas aus dem Jahr 1718, die Gewalt der Kolonialherren verherrlicht. Im Auftrag der Fondazione Prada hat die Künstlerin Goshka Macuga den Paravent in time, in space, in state (2023) aus Bücherwänden geschaffen. Vor- und Rückseiten jedes Segments sind Ländern zugeordnet, die sich im Krieg oder in gegenseitigen Spannungen befinden: Israel und Palästina, Russland und Ukraine, China und Taiwan. Einige Bücher können von beiden Seiten herausgenommen werden, um die Wechselwirkung zwischen den nationalen Identitäten zu betonen. 
 
Metamorphosen der Zeit 
Neue Perspektiven öffnet der transparente Paravent (1990) von Isa Genzken: aus brüchig anmutendem Beton gegossene Rahmen, die die Blicke frei passieren lassen, um das dahinter Liegende neu zu betrachten. Im Obergeschoss variiert das kuratorische Konzept: Die Arbeiten sind nun in chronologischer statt in thematischer Abfolge präsentiert. So können die Besucher*innen die Transformationen und Metamorphosen nachvollziehen, die der Paravent ausgehend vom 17. Jahrhundert in China und Japan bis in die Gegenwart vollzogen hat. Vor allem die Gestalter*innen der Moderne sind hier präsent. Eileen Gray hat mit ihrem Brick Screen (1925) den Sichtschutz in schwarz lackierte Holzblöcke aufgelöst, die ein Spiel aus offenen und geschlossenen Flächen entfachen. Charles und Ray Eames (Folding Screen FSW 8, 1948) haben ebenso wie Alvar Aalto (Model Nr. 100, 1940) den Paravent aus seinen starren Flächen befreit. Durch Verbindung von schmalen, vertikalen Schichtholzleisten entsteht eine durchgehende Oberfläche, die sich in Schlangenlinien geradezu organisch bewegen lässt. 
 
Wechselwirkung zur Kunst 
Die puristischen Farbflächen-Entwürfe von Le Corbusier (Paravent pour la Cité Radieuse, 1950) und Pierre Jeanneret (PJ-DIVERS-01-A, 1958, für die Wohnbauten in Chandigarh) treten in einen Dialog mit dem monochromen Paravent IKB62 (1957) von Yves Klein oder den geometrischen Strukturen des Untitled Screen (1987) von Sol LeWitt. Bei William Kentridges Arbeit Untitled – Bread is Not Cut, Bread is Broken (2023) ist vorne eine Zeichnung wilder Vegetation zu sein, eine Abwandlung des Theater-Projektes The Great Yes, The Great No über eine fiktive Reise von Marseille nach Martinique im Jahr 1941. Die Vorderseite zeigt das, was man der Welt präsentieren möchte. Auf der Rückseite sind Zettel mit Notizen zu sehen, die von Ängsten erzählen. Ergo: Bei Paravents ist es wie im Leben. Es lohnt sich immer, beide Seiten zu betrachten. 


Paraventi: Folding Screens from the 17th to 21st Centuries
Fondazione Prada, Largo Isarco, 2, 20139 Milano
Noch bis zum 22.02.2024

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Links

Fondazione Prada

www.fondazioneprada.org

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