Planet Plastik
Neue Ausstellung im Vitra Design Museum
Von Bakelit zu recyceltem PET, von linear zu zirkulär: „Plastik. Die Welt neu denken“ heißt die vergangene Woche eröffnete Ausstellung im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Die Schau zeigt, wie Kunststoffe ungebremst unseren Alltag überflutet haben. Und schlägt Ansätze vor, wie wir die Flut wieder in den Griff bekommen können.
Die üblichen Verdächtigen glänzen mit Abwesenheit. Kein Panton, kein Eames, kein Colombo, kein Saarinen. Lediglich der charmante Kugelsessel Pallo des Finnen Eero Aarnio erinnert an die glorreiche Zeit des Kunststoffs im Möbeldesign. An zeigenswerten Stücken hätte es nicht gemangelt in der Sammlung des Vitra Design Museums, im Gegenteil, – aber die Macher*innen der neuen Ausstellung Plastik. Die Welt neu denken haben ihren Fokus viel weiter gestellt. Von Tupperdosen bis OP-Masken, von Lego bis Nike, von der Kolonialzeit bis heute: In den Ausstellungsräumen des Gehry-Baus in Weil am Rhein begegnen einem Kunststoffe in allen möglichen Formen und Funktionen. „Plastik ist überall“, sagte die stellvertretende Direktorin des Museums Sabrina Handler auch bei der Pressekonferenz. „Es hat unseren Alltag geprägt wie nichts anderes. Unser Lebensstil beruht darauf.“
Throwaway Living
Und im Vergleich zu den Milliarden von PET-Flaschen und Plastiktüten, den Müllstrudeln und Nanopartikeln wirken die bunten, zukunftsfrohen Stühle und Leuchten aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren auch allenfalls wie ein Unterkapitel der Kunststoffgeschichte. Stattdessen dokumentiert die Ausstellung, wie die Kunststoffe nach und nach unseren Alltag überflutet haben, mit Exponaten wie der ersten Einweg-Colaflasche oder einem Picknickgeschirr zum Wegwerfen. Dazu ein Foto einer Kleinfamilie, die in einer orgiastischen Geste Teller, Becher, Strohhalme und Besteck in die Luft schleudert. Der Mülleimer quillt schon über wie in den Berliner Parks nach einem langen Sommerwochenende. Inszeniert hat das Motiv der Fotograf Peter Stackpole 1955 für einen Artikel über „Throwaway Living“ in der Zeitschrift Life.
Koloniale Kunststoffe
Begonnen hatte die Geschichte der Kunststoffe rund 100 Jahre zuvor, Mitte des 19. Jahrhunderts: Forscher und Tüftler suchten Ersatz für Werkstoffe aus der Natur, wie Elfenbein, Horn oder Schildpatt. Sie erfanden semisynthetische Stoffe, für die sie natürliche Materialien im Labor bearbeiteten. So entstand etwa Zelluloid auf Basis von Zellulose, das als erstes Thermoplast gilt. Die Ausstellung widmet dieser Phase des Übergangs von natürlich zu künstlich einen ganzen Raum, mit Handspiegeln aus Schellack, Knöpfen aus Kasein und Unterseetelegrafenkabeln in einer Ummantelung aus Guttapercha, einem gummiartigen Stoff aus Pflanzensaft. Diese Zeit ist auch eng verknüpft mit der Ausbeutung der Kolonien durch die Europäer: Während das Seekabelnetz wuchs und die Kontinente miteinander verband, wurden die Bäume in Südostasien, die den Saft für Guttapercha lieferten, fast ausgerottet. Der belgisch-amerikanische Chemiker Leo Baekeland entwickelte schließlich 1907 aus Phenol und Formaldehyd den ersten vollsynthetischen Kunststoff, den er ganz unbescheiden nach sich selbst benannte: Bakelit. Das nicht leitende und hitzebeständige Kunstharz machte sich schnell nützlich in der boomenden Elektroindustrie. Die Ausstellung zeigt elektrische Schalter und Geräte wie Telefon, Radio oder Lautsprecher.
Petromoderne
Was heute als globale „Plastikmüllkrise“ (Sabrina Handler) unseren Planeten und damit uns alle bedroht, baute sich wie eine Welle seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auf. Als in den Dreißigerjahren die ersten Kunststoffe auf Erdölbasis erfunden wurden, zog die petrochemische Industrie schnell eine massenhafte Produktion auf, die „Petromoderne“ begann. Das amerikanische Unternehmen DuPont etwa brachte 1938 ein Polyamid namens „Nylon“ auf den Markt, in der Ausstellung repräsentiert durch ein paar kostbare Diamant-besetzte Damenstrümpfe. Der Zweite Weltkrieg sorgte für einen zusätzlichen Schub, denn die neuartigen Materialien erwiesen sich als tauglich für militärische Anwendungen. Der Begriff „Fallschirmseide“ für feine Kunstfasern erinnert daran. Nahtlose Flugzeughauben aus Acrylglas boten Kampfpiloten eine nie gekannte Rundumsicht.
Kreislaufwirtschaft
Nach dem Krieg suchte die petrochemische Industrie dringend neue Märkte für ihre in Kriegszeiten ausgebauten Produktionskapazitäten: Mit enormem Marketingaufwand erzog sie sich die Konsument*innen, die sie brauchte – bis heute. „Die Wegwerfgesellschaft war in den Fünfziger- und Sechzigerjahren positiv besetzt“, sagte der Chefkurator des Vitra Design Museums Jochen Eisenbrand beim Rundgang durch die Ausstellung. „Die Idee von ‚Convenience‘. Etwas ist so billig, man kann es auch gleich wegwerfen.“ Wie die Familie ihr Picknickgeschirr auf dem Foto im Life-Magazin.
Die Ölkrise 1973 verpasste der Wachstumskurve übrigens nur einen kleinen Knick. Und heute? Die vom zweitgrößten Kunststoffhersteller der Welt BASF und Nike gesponserte Ausstellung sieht zwei Auswege aus der Plastikkrise: die Umstellung auf Kreislaufwirtschaft und alternative Materialien. An einer interaktiven Sortierstation können die Besucher*innen Plastikmüll wie Chipstüten und Shampooflaschen vor einen Infrarotscanner halten, wie er auch in Sortieranlagen verwendet wird. Der Scanner erkennt die Kunststoffsorte, der Müll kann in den richtigen Korb gelegt werden. Dass es so einfach in der Realität leider oft nicht funktioniert, zeigen die Grafiken zu weltweiten Müllexporten an den Wänden.
Plastik statt Benzin
Also lieber erst gar kein Plastik verwenden? Sondern Verpackungen aus Apfelcellulose herstellen, Baustoffe aus Pilzmycel und Taschen aus Bananenfasern, garantiert ungiftig und komplett kompostierbar? Die Ausstellung präsentiert eine ganze Reihe von Forschungs- und Designprojekten, die sich damit beschäftigen, Ersatz für erdölbasierte Kunststoffe zu finden. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass sich hier der Kreis zu den Anfängen schließt und wieder mit natürlichen, nachwachsenden Rohstoffen experimentiert wird. Ob darin die Lösung liegt? Der lesenswerte, vertiefende Ausstellungskatalog jedenfalls zitiert Studien, nach denen die Bedeutung der Kunststoffproduktion für die petrochemische Industrie noch zunehmen wird, denn durch die Konjunktur der Elektromobilität geht die Nachfrage nach Kraftstoffen zurück. Entsprechend sagen Prognosen voraus, dass die Menge des produzierten Kunststoffs in den nächsten Jahren weiter steigen wird.
Plastik. Die Welt neu denken
Eine Ausstellung des Vitra Design Museums, des V&A Dundee und des MAAT, Lissabon bis zum 4. September 2022 im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zu sehen, danach in Dundee und Lissabon