Stories

Die Möbelchoreografie

Ein Besuch im Thonet-Werk

Langlebig, materialeffizient, reparierbar: Produkte von Thonet waren schon nachhaltig, als der Begriff noch keine große Rolle spielte. Mit dem hauseigenen Reparaturservice verlängert das Unternehmen das Leben der Bugholz- und Stahlrohrmöbelklassiker noch zusätzlich. Ein Besuch im Thonet-Werk im nordhessischen Frankenberg.

von Jasmin Jouhar, 25.09.2024

Schon zahllose Male haben die beiden Männer diese Choreografie gemeinsam aufgeführt. Den Buchenholzstab aus dem Dampfkessel holen, Schraubzwingen befestigen und dann den geraden Stab – jeder hält ein Ende – mit viel Gefühl in die Form biegen. Zügig die Zwingen festdrehen, bis sich der Stab perfekt in die berühmte Kurve legt. Fertig ist das wichtigste Bauteil des Stuhls 214 von Thonet: die Rückenlehne und die Hinterbeine aus einem Stück. Der Ablauf ist eingespielt, da sitzt jeder Handgriff. Denn es muss schnell gehen beim Biegen, das Holz darf nicht abkühlen.

Möbelbau in Handarbeit
Auch sonst sitzen die Handgriffe in Thonets Möbelmanufaktur im nordhessischen Frankenberg. Ob beim Schleifen von Stahlrohrteilen, beim Bespannen von Sitzrahmen mit Geflechtmatten oder beim Polstern von Stuhllehnen und Sitzflächen: Die Mitarbeiter*innen sind konzentriert bei der Sache, führen Hammer, Tacker, Lackierpistole schnell und sicher. Manche Arbeiten wurden schon zu Zeiten des Gründers Michael Thonet Mitte des 19. Jahrhunderts so ausgeführt, anderes wurde industrialisiert und vereinfacht, auch mit Unterstützung von Maschinen und Robotern. Letzteren bei der Arbeit zuzuschauen, hat seine ganz eigene Faszination. Auch die Roboter scheinen einer Choreografie zu folgen, wenn sie mit immer gleichen, abgezirkelten Bewegungen Stahlrohr biegen oder Holzteile fräsen. Aber wie meist im Möbelbau passiert auch bei Thonet nach wie vor vieles in Handarbeit. Etwa in der Endmontage, wo die einzelnen Elemente zum fertigen Stuhl oder Tisch zusammengefügt werden.

Verschraubt, nicht verleimt
Und was einmal von Hand zusammengebaut wurde, kann auch von Hand wieder auseinandergebaut werden. Scheint selbstverständlich und nicht weiter erwähnenswert, ist aber ein wichtiger Aspekt: Möbel von Thonet waren schon immer so konstruiert, dass sie einfach zerlegt und somit auch repariert werden können. Der berühmte Kaffeehausstuhl Nr. 14, heute 214, war verschraubt und nicht verleimt: Im 19. Jahrhundert eine kleine Revolution, bis heute ein wichtiges Gestaltungsprinzip, das in den vergangenen Jahren sogar noch an Bedeutung gewonnen hat. Denn auf dem Weg zum nachhaltigeren und kreislaufgerechten Wirtschaften ist die Reparierbarkeit von Objekten ein entscheidender Faktor. Er trägt zu ihrer Langlebigkeit bei. Je länger ein Produkt benutzt werden kann, umso besser für seine Umweltbilanz. Im besten Fall ist es „enkelfähig“, wird also an nachfolgende Generationen weitervererbt.

Die gebrauchte Alternative
Der Langlebigkeit verpflichtet ist Thonet nicht nur durch seine über 200-jährige Firmengeschichte. Das Unternehmen betreibt auch bereits seit über fünfzig Jahren einen eigenen Reparaturservice in seiner Fabrik in Frankenberg. Die Mitarbeiter*innen setzen hier beschädigte oder abgenutzte Thonet-Möbel wieder instand, egal, ob das jeweilige Modell noch lieferbar ist oder nicht. Man hält einen beachtlichen Bestand an Ersatzteilen im Lager vor, um immer das passende Stück zur Hand zu haben. Privatleute mit ihrem Lieblings-Stahlrohrsessel sind genauso willkommen wie Architekt*innen, die einen ganzen Saal voller Konferenzbestuhlung überarbeiten lassen möchten. Denn bereits gebrauchtes Mobiliar auch in großen Planungsprojekten zu verwenden, etabliert sich gerade als kreislaufgerechte Alternative auf dem Markt.

Denn sie wissen, was zu tun ist
Umso besser, dass bei Thonet die Fachkräfte aus der Neufertigung auch die Reparaturen übernehmen. Sie kennen die meisten Modelle und Materialien gut und verfügen über die notwendigen Fertigkeiten. Kurz: Sie wissen, was zu tun ist. Häufig müssen beschädigte Rohrgeflechte ausgetauscht werden, vor allem bei älteren Stühlen noch ohne stabilisierende Unterspannung. Auch Sitzpolster sind nach vielen Jahren regelmäßiger Nutzung oft verschlissen und verschmutzt und werden ersetzt. Holzteile können abgeschliffen und neu gebeizt oder lackiert werden. Bei Metalloberflächen wie verchromtem Stahlrohr reicht hingegen oft eine Politur. In jedem Fall steht am Ende des Prozesses ein runderneuertes Stück, das noch viele Jahre seinen Dienst tun kann.

Mehr mit weniger
Materialeffizienz ist ein weiteres entscheidendes Gestaltungsprinzip für Thonet, das ebenfalls schon auf den Gründer Michael Thonet zurückgeht und im Kontext von nachhaltigem Wirtschaften wichtiger denn je ist. Holzbiegen als Technik ist deshalb so effizient, weil weniger Verschnitt durch Sägen oder Fräsen anfällt. Die Form entsteht aus dem massiven Holzstab, der entlang der Faserrichtung gebogen wird und deshalb – trotz seines schlanken Querschnitts – sehr belastbar ist. Thonet bezieht den nachwachsenden Rohstoff Holz zudem ausschließlich aus nachhaltiger Forstwirtschaft in Deutschland und Europa. Mit den Stahlrohrmöbeln konnte Thonet vor über hundert Jahren das Prinzip der Materialeffizienz in einem weiteren Material aktualisieren. Die schwebend-leichten Stühle, Sessel und Tische waren nicht nur unerhört modern. Ihr vergleichsweise geringes Gewicht war und ist noch immer ein Zeichen für den sparsamen Materialeinsatz bei der Herstellung. Kein Wunder, dass die Möbelklassiker von Thonet – ob aus Holz oder Stahlrohr – heute mehr denn je aktuell sind.

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