Moderne Zeiten
100 Jahre Villa Noailles in Hyères
Architektur-Highlight und ikonisches Denkmal der Zwischenkriegszeit: Hundert Jahre nach der Gründung dient die legendäre, im Bauhaus-Gedanken errichtete „Villa Noailles“ in Hyères wieder als Kunst- und Designtreff.
Hoch auf einem Hügel gelegen, gleitet der Blick von den Terrassen der Villa Noailles über die Hafenstadt Hyères und über das azurblaue Mittelmeer hinaus auf die vorgelagerten Inseln Porquerolles, Levant und Port-Cros – die „ÎIes d'Or“. Akzentuiert von der benachbarten Burgruine der Tempelritter, verbinden sich die diversen Kuben der Villa zu einem Riegel, der der Topographie des Hangs folgend diverse Wohnebenen beinhaltet. Strahlend hell reflektieren seine Mauern das Licht des Südens. Das bauliche Motto? Adieu Belle Époque! Denn Pate für dieses Flaggschiff der Moderne standen das Gedankengut von Bauhaus und De Stijl sowie Werke von Architekt*innen wie Josef Hoffmann oder Le Corbusier.
Ein kleines, interessantes Haus zum Wohnen
Modern, aber simpel – so lautete das bauliche Briefing. Weil Mies van der Rohe und Le Corbusier gerade beschäftigt waren, beauftragte das Ehepaar de Noailles 1923 den Franzosen Robert Mallet-Stevens (1886-1945) und den Belgier Léon David als ausführenden Architekten. Ein mutiger Schritt – für Mallet-Stevens bedeutete der Auftrag das erste abgeschlossene Projekt überhaupt. „Ein kleines, interessantes Haus zum Wohnen“ hatte sich Charles de Noailles gewünscht. Verwinkelt und verschachtelt, so ordnen sich Volumen, Vorsprünge, Kappen und Gesimse nach einer funktionellen Logik, die sich nach dem Rhythmus der Sonne richtet, ein Zusammenspiel von Proportionen und Rhythmen, von Körper und Hohlräumen. Bezüglich des Interiors folgten die Architekten den Raumkonzeptionen von Frank Lloyd Wright.
1.800 Quadratmeter „living space“
Heute gilt die von 1923 bis 1927 erbaute Villa Noailles, auch Clos Saint-Bernard genannt, als eines der aufschlussreichsten Zeugnisse der Zwischenkriegszeit von ganz Frankreich. In einer ersten zweijährigen Bauphase entstand der Kern, der in den Folgejahren erweitert wurde. Hierbei erhielten Charles und Marie-Laure Noailles einen jeweils eigenen Bereich, was den Gepflogenheiten der Zeit entsprach. Sämtliche Wohnräume liegen gen Süden und verfügen über eigene Bäder und Terrassen. Hinzu kamen Salons, Räume für die beiden Töchter des Paares, Laure Madeleine (*1924) und Nathalie Valentine (*1927), ein Indoor-Pool und weitere Bereiche zum Sporttreiben wie ein Gym und ein Squashplatz – insgesamt 1.800 Quadratmeter „living space“. Alles wurde nach funktionellen Gesichtspunkten der „utilité“ (Nutzen) angelegt.
Treffpunkt eines illustren Kreises
Das Interior stand dem Anspruch in Sachen Architektur in nichts nach: Für das Mobiliar entwarf Mallet-Stevens den Lehnstuhl Transat, dazu gesellten sich Stücke von Pierre Chareau, Jean Prouvé, Eileen Gray, Charlotte Perriand, Marcel Breuer und Textilien von Raoul Dufy und Sonia Delaunay, außerdem Gemälde von Georges Braque und Piet Mondrian. Besonderen Wert legte der Hausherr auf den 1947 angelegten, üppigen Garten, zu dem auch der „jardin cubiste“ von Gabriel Guevrekian gehört. Auf die Frage, ob Charles Frauen oder Männer bevorzugte, soll Marie-Laure übrigens gesagt haben: „Charles? Am liebsten mag er Blumen.“
In der als Sommersitz wie auch Winterresidenz konzipierten Villa empfing das Ehepaar Noailles zahlreiche Größen der Zeit – einen illustren Kreis aus Künstler*innen wie Man Ray, Pablo Picasso, Alberto Giacometti oder Salvador Dalí, dazu Filmemacher*innen wie Luis Buñuel und Jean Cocteau oder die Literat*innen der Stunde. In der Rolle von Gastgeber*innen, Mäzen*innen und Sammler*innen umgab sich das Paar mit Kunst und Künstler*innen, besonders favorisierten sie die Stilrichtung des Surrealismus.
Zum Geburtstag einen Film
Doch wer war dieses Bauherrenpaar eigentlich? Der aus einem alten Adelshaus stammende Vicomte Charles de Noailles (1891-1981) hatte im Februar 1923 Marie-Laure Bischoffsheim (1902-1970) geheiratet, Tochter eines deutsch-jüdischen Bankiers. Man lernte sich zuvor in den Pariser Salons kennen, das Interesse für Kunst einte das Paar. Das Grundstück auf dem Hügel hoch über Hyères war ein Hochzeitsgeschenk der Mutter von Charles. Weil Marie-Laure eine Ur-ur-ur-Enkelin des berüchtigten Marquis de Sade war, kaufte Charles dessen Manuskript „Die 120 Tage von Sodom“ und produzierte den teils darauf basierenden Film als Geburtsgeschenk für seine Frau. 1930 ist er als satirische Filmkomödie „L'age d'Or“ erschienen (Regie: Luis Bunuel, Drehbuch: Salvador Dalí). Es war einer der ersten Tonfilme überhaupt. Der Skandal folgte prompt. Davor hatte Charles schon Man Rays Streifen „Les Mystères du Château de Dé“ finanziert, ein großer Teil des Films war 1929 in der Villa Noailles gedreht worden.
Symbol für die Moderne
Während der Kriegsjahre besetzte die italienische Armee die Villa und nutzte sie als Krankenhaus. Danach kehrte Marie-Laure zurück und verbrachte dort die Sommer bis zu ihrem Tod im Jahr 1970. Weil sich die beiden Töchter nicht für das Anwesen interessierten, kam der Bau 1973 in den Besitz der Stadt Hyéres. Und verfiel. In den Neunzigerjahren fotografierte Karl Lagerfeld das ikonische Denkmal und schrieb im Vorwort seines Bildbands Villa Noailles, Hyères-Été 1995: „Diese Villa ist ein zeitlos moderner Ort. Beinah eine Ruine, aber ohne Falten. Sie wurde geliebt, verlassen, vergessen. Bis man eines Tages entdeckte, dass sie als perfektes Symbol für all das steht, was die Moderne bedeutet. Inspiriert von Bauhaus und de Stijl, war sie in Frankreich die Erste ihrer Art“. Die „emotionale Kraft“ und Magie, die Lagerfeld dem Bau zuschrieb, und auch den einstigen Esprit des Hauses mitsamt des künstlerischen Lebens darin, das alles galt es wiederzubeleben.
Raum für neue Ideen
Seit der aus Hyères stammende Jean-Pierre Blanc dem denkmalgeschützten und restaurierten Bau ab 1996 als Directeur neue Bedeutung als Kunstzentrum verschaffte, avancierte die Villa Noailles ein zweites Mal zum nationalen Treff für Kreative aus Kunst, Architektur, Fotografie, Mode und Design. Darüberhinaus steht sie ganzjährig offen für alle. Neben der permanenten Ausstellung über das Gründerpaar machen temporäre Workshops und Veranstaltungen wie das jährliche „International Festival of Fashion and Photography“ im Frühjahr oder seit 2006 die sommerliche „Design Parade Hyères“ die Villa zum etablierten Kulturmekka, in hochkarätigen Kooperationen mit Kunstinstitutionen in Marseille, Toulon oder Paris. „Wir sind offen für alle Stile, für neue Ideen, und ganz besonders für junge Talente“, sagt Directeur Blanc, der zu den ersten gehörte, die Viktor & Rolf der Öffentlichkeit präsentierte. Statt dem Ehepaar Noailles übernehmen heute Big Player wie Chanel, LVMH, Hermès oder Mercedes-Benz die Rolle des Mäzenatentums und laden Designer*innen wie Ronan Bouroullec und Pierre Yovanovitch zu Kooperationen anlässlich des 100-jährigen Jubiläums ein. Wie damals ist die Villa also auch heute ein Epizentrum der Avantgarde. Wir wünschen viel Erfolg für ein weiteres Jahrhundert!