Made in Lebanon
Die Beiruter Kreativszene zwei Jahre nach der großen Explosion
Wie arbeiten Architekt*innen, Designer*innen und andere Kreative in einem Land, das politisch und wirtschaftlich am Boden liegt? Das haben wir uns gefragt und sind in den Libanon gefahren. Eine Reise mit spannenden Begegnungen, berührenden Erzählungen und kämpferischen Menschen. Plus eine Bildergalerie mit 69 Fotos.
Offiziell gibt es im Libanon eine Stunde Strom und eine Stunde fließendes Wasser am Tag. Nur wer die finanziellen Mittel hat, kann sich mehr leisten. Vor dem Eingang zum Guesthouse von Pascale Laffe steht deshalb ein riesiger Generator, der rund um die Uhr für Elektrizität sorgt. Die Grafikdesignerin hat ihr ehemaliges Elternhaus – eine Maisonette-Wohnung in einem Hochhaus aus den Siebzigerjahren im Intellektuellenviertel Achrafieh – kurz vor der Pandemie in das Guesthouse Beit El Laffe mit drei Gastzimmern umgebaut. Dann kam Corona und wenig später die Explosion im nicht weit entfernten Hafen von Beirut. Rund 200 Menschen starben, Tausende wurden verletzt und Hunderttausende obdachlos.
Chez Pascale: ein Guesthouse als Treffpunkt der Kreativszene
Von einem Moment auf den anderen verlor Pascale Laffe ihr Guesthouse und außerdem ihre Wohnung. Auch die Wohnungen ihrer Schwester, die stille Teilhaberin des Guesthouse ist, und ihrer Mutter wurden zerstört. Kurz habe sie daran gedacht aufzugeben, erzählt sie uns im lauschigen Garten. Doch sie wollte sich ein zweites berufliches Standbein aufbauen und krempelte die Ärmel erneut hoch. Fast das gesamte Interior war zerstört oder zumindest beschädigt und musste ersetzt oder repariert werden. Davon merkt man heute nichts mehr, denn die Unterkunft ist behaglich ausgestattet mit libanesischen Designstücken und orientalischen Objekten, so dass man sich gleich zuhause fühlt, auch der interessanten anderen Gäste wegen. Hier trifft sich regelmäßig die Kreativszene der Stadt, denn Pascale lädt Künstler*innen zu Ausstellungen ein, veranstaltet Abendessen, Tattoo- und Kräuter-Workshops oder Yoga-Sessions. Nach der Explosion kamen an dem halb zerstörten Ort Psycholog*innen und traumatisierte Menschen aus den umliegenden Vierteln zusammen, was auch ihr geholfen habe das Geschehene zu verarbeiten, erzählt Pascale. Besonders schön ist das zweistöckige Entree mit der riesigen Fensterfront und der Tür, die in den Garten führt. Eigentlich hätte sie sich gar nicht leisten können, eine neue Fensterfront einzubauen, aber sie bekam Hilfe von Mariana Wehbe. Die PR-Expertin hatte gleich nach der Explosion zusammen mit ihrer Freundin, der Galeristin Nancy Gabriel, das Hilfsprojekt Bebw`shebbek gegründet. Gemeinsam mit freiwilligen Architekt*innen, Ingenieur*innen und Designer*innen halfen sie, in einigen der unzähligen zerstörten Gebäude neue Fenster und Türen einzubauen.
Bleiben oder gehen?
Gerade nach der Explosion zeigte sich: Der Libanon lebt von solchen privaten Hilfsinitiativen. Auf den Staat ist keinerlei Verlass – so die einhellige Meinung aller Protagonist*innen, mit denen wir auf unserer Reise gesprochen haben. Viele Gestalter*innen sind auf Stipendien angewiesen, zu denen auch Auslandsaufenthalte mit Workshops und Ausstellungen gehören. So ist die Künstlerin Tamara Barrage letzten August von einem dreiwöchigen Aufenthalt auf Schloss Hollenegg in Österreich zurückgekommen, wo sie zusammen mit fünf anderen Designer*innen mit dem Werkstoff Glas arbeitete – in der Wiener Glaswerkstatt von Studio Comploj. Im Mai wird sie ihre dort entstandene Arbeit, einen skulpturalen Kerzenhalter, in einer Ausstellung auf Schloss Hollenegg präsentieren.
Der Textilkünstler Adrian Pepe verbrachte im vergangenen Sommer einige Wochen in Naumburg auf Einladung der Marzona Stiftung Neue Saalecker Werkstaetten, der eine Ausstellung während der Dutch Design Week folgte. Er zählt wohl zu den am besten vernetzen Designer*innen aus Beirut. Obwohl er ursprünglich aus Honduras stammt und erst seit acht Jahren in der Stadt lebt, will er sie auch nach Explosion und trotz der widrigen Umstände keinesfalls verlassen. „Es sind gerade solche Krisenzeiten, in denen wir die größte Freiheit und Klarheit finden“, sagt er. Die Möglichkeiten ausloten und die eigene Kreativität Richtung einer besseren Zukunft lenken, das ist sein Ziel. Er verkauft seine Arbeiten insbesondere in den Golfstaaten. Letzten November präsentierte er seine kunstvollen Wandbehänge und Poufs aus Schafwolle auf der Designmesse Downtown Design in Dubai sowie zusammen mit dem Beiruter Keramikstudio von Mary-Lynn Massoud und Rasha Nawam im Concept Store Comptoir 102. Einen zweiten Wohnsitz in Dubai haben inzwischen die Designerinnen Carla Baz, Tamara Barrage und Nada Debs. Als wir die Grande Dame des libanesischen Designs in ihrem Haus treffen, einem Bungalow aus den Achtzigern, erzählt sie uns, dass sie in Dubai gar eine eigene Firma gegründet habe – der politischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten im Libanon wegen. Und weil die Auftragslage in den Emiraten generell sehr gut sei, im privaten sowie im öffentlichen Bereich.
Enge Bande
Auch wenn sich einige Designer*innen nach der Explosion entschlossen haben, ins Ausland zu ziehen – die Bande zur Heimat bleiben eng. Generell ist die Beiruter Architektur- und Designszene überschaubar und gut untereinander vernetzt. „Die Kreativen waren schon immer diejenigen im Libanon, die Grenzen gesprengt haben in einem Land, das sehr konservativ und religiös ist“ sagt Philippe Ghabayen, der in Beirut ein Modelabel betrieb und nun weltweit und ohne festen Wohnsitz als Content Creator arbeitet. Wir treffen ihn im Guesthouse von Pascale Laffe, wo er ein paar Tage verbringt. Nachdem er das Land wegen der Explosion verlassen hat, kehrt er nun als Besucher zurück. „Kurz nach den Ereignissen habe ich gedacht, dass sich das Land von einem solchen Schlag nicht wieder erholen könne“, sagt er. „Unser Erbe und unsere Erinnerungen wurden zerstört.“
Ähnlich perspektivlos schätzen auch die Schwestern Tessa und Tara Sakhi die derzeitige Lage ein und sind mit ihrem Studio TSakhi von Beirut nach Venedig gezogen. Venedig deshalb, weil sie bereits seit 2017 eng mit venezianischen Glasbläser*innen zusammenarbeiten, die ihre Objekte fertigen. „Es ist eine Herausforderung zu verarbeiten, was passiert ist“, sagt Tara. Und ihre Schwester ergänzt: „Gezwungen zu sein, die Heimat zu verlassen und an einem anderen Ort von vorn zu beginnen, ist unglaublich schwer.“ Die Architektin und Designerin Roula Salamoun hat wie wohl die meisten Kreativen in Beirut ebenfalls darüber nachgedacht, das Land zu verlassen. Doch sie habe viele Aufträge im Libanon und auch die Produktion ihrer Objekte finde dort statt – deshalb will sie bleiben, erzählt sie uns in einem Café im Viertel Gemmayzeh unweit des Hafens. Hier befand sich ursprünglich das kreative Zentrum der Stadt – mit vielen Designstudios, Concept Stores und dem Headquarter von PSLab. Von den kreativen Vibes ist nicht sehr viel übrig geblieben, außer einigen Coffeeshops und dem wiederaufgebauten Studio von Nada Debs.
Katalysator libanesischen Designs
Wie Tamara Barrage und die Designerin Stephanie Moussalem wird auch Roula Salamoun unterstützt von House of Today – einer bereits 2012 von der Unternehmerin Cherine Magrabi Tayeb gegründeten NGO, die das libanesische Design fördert. House of Today bietet nicht nur libanesischen Designer*innen eine öffentliche Bühne auf Messen und Veranstaltungen wie Edit Napoli und Downtown Design Dubai, sondern vermittelt auch Handwerker*innen und Produzent*innen und unterstützt den Vertrieb ihrer Entwürfe. Unmittelbar nach der Explosion förderte House of Today einige Designer*innen mit finanziellen Mitteln, damit sie ihre zerstörten Studios wieder aufbauen konnten. „Neben einem Coaching- und Mentoring-Programm konnten den Designern so geholfen werden, wieder in die Spur zu kommen“, sagt die studierte Innenarchitektin Magrabi Tayeb, die eigentlich im Familienunternehmen arbeitet, einer Optikerkette mit rund 200 Filialen im Mittleren Osten.
Zwischen Hoffen und Bangen
„Das libanesische Design ist komplex, divers und reich“, sagen die Sakhi-Schwestern. In gewisser Weise habe die Krise die libanesischen Gestalter*innen dazu gebracht, Stärken zu entdecken, beispielsweise heimische Handwerkstechniken wie das Korbflechten, Töpfern und Tischlern. Das libanesische Design wird aber nicht nur aufgrund seiner starken Verknüpfung mit dem Handwerk inzwischen auch international verstärkt wahrgenommen, sondern auch weil einheimische Designer wie Carlo Massoud und Khaled El Mays ihre Entwürfe über internationale Galerien wie Carwan Gallery in Athen und Nilufar in Mailand verkaufen.
We Design Beirut
„Das libanesische Design war seiner Zeit immer voraus“, sagt Philippe Ghabayen. „Aus einem Land kommend, in dem kreative Arbeit kaum geschätzt und unterstützt wird, lässt uns zehn Mal härter arbeiten.“ Auch wenn Tara und Tessa Sakhi davon sprechen, das seit der Explosion „ein Gefühl der Melancholie, Trauer und Angst“ über Beirut läge, gibt es doch Hoffnung. Nicht nur fühlte sich die Dubai Design Week wie ein Klassentreffen libanesischer Designer*innen an. Die in Paris lebende libanesische Architektin Lina Gothmeh wird dieses Jahr in London den Serpentine Pavillon gestalten und in Lausanne zeigt das Musée Cantonal de Design et d'Arts appliqués contemporains (Mudac) mit „Beirut – Zeiten des Designs“ eine groß angelegte Ausstellung. Mit dabei sind auch zeitgenössische Gestalter*innen wie Carla Baz, Spock Design, Nada Debs und Carlo Massoud. Und im Juni plant Mariana Wehbe mit We Design Beirut eine Fortsetzung der inzwischen eingestellten Beirut Design Week.
Born in Beirut: fünf Designpositionen aus dem Libanon
Mit Nada Debs, Carla Baz, Carlo Massoud, TSakhi und Khaled El Mays
www.baunetz-id.de„Es gab diesen großen Hunger“
Interview mit Dimitri El Saddi, Gründer der Lichtmanufaktur PSLab
www.baunetz-id.deBeirut – Zeiten des Designs
Ausstellung im Mudac (Lausanne) vom 7. April bis 6. August 2023
mudac.ch