Perfect Days
Wim Wenders würdigt das Tokyo Toilet Project im Kino
Wim Wenders ist immer wieder für eine Überraschung gut. Mit seinem neuen Film „Perfect Days“ holt er das „Tokyo Toilet“-Projekt auf die große Leinwand. Japan bewirbt sich mit dem Streifen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film – und die Chancen, so munkelt man, stünden nicht schlecht. Selten haben stille Örtchen derart im Rampenlicht gestanden.
Mitunter kommt alles ganz anders: Eigentlich sollte Wim Wenders einen Dokumentarfilm über das Tokyo Toilet-Projekt im Stadtteil Shibuya drehen. Heraus kam ein Spielfilm, der den Blickwinkel weiter fasst. Perfect Days begleitet den Protagonisten Hirayama dabei, wie er die öffentlichen Toiletten tagein, tagaus reinigt. Der Film zeigt seinen strukturierten Tagesablauf, teilt seine Leidenschaft für Musik, die er von Audiokassetten hört, während er allabendlich in gebrauchten Taschenbüchern liest. Dabei gelingt eine poetische Betrachtung der alltäglichen Welt, das Offenbaren ihrer flüchtigen Schönheit.
Intensivere Betrachtung
„Ich finde, ‚Orte‘ sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten. Der Himmel über Berlin fing ja auch mit der Lust an, diese Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Aber wenn ich damals einen Dokumentarfilm über Berlin gemacht hätte, wären die Orte des Films nicht so ‚erhalten‘ geblieben, wie es durch die Erzählung der Engelsgeschichte geschehen ist“, erklärt Wim Wenders. Sechzehn Tage wurde im Oktober 2022 in Tokio gedreht. „Hirayamas Alltag dient unserer Erzählung als Rückgrat. Das Schöne an diesem monotonen Rhythmus des ‚ewig Gleichen‘ ist, dass man plötzlich beginnt, auf all die kleinen Dinge zu achten, die eben nicht gleich bleiben, sondern sich jedes Mal verändern“, sagt Wim Wenders. Mit eben jener Beiläufigkeit porträtiert der Film die derzeit ungewöhnlichsten Toiletten der Welt.
Sanitärer Sinneswandel
Das Tokyo Toilet Project ist eine Initiative der Nippon Foundation, Japans größter Wohltätigkeitsorganisation. Sie will die Wahrnehmung der stillen Örtchen verändern, das Image von dunklen, stinkenden und unheimlichen Orten von ihnen streifen. Sauberkeit steht hierbei an vorderster Stelle. Doch die wird in Japan ohnehin großgeschrieben. Also sollte es um etwas mehr gehen. Für den Bau der 17 geplanten Standorte wurden 16 namhafte Gestalter*innen verpflichtet. Die ersten, 2020 fertiggestellten Toiletten wurden von Shigeru Ban, Fumihiko Maki, Masamichi Katayama (Studio Wonderwall) und Nao Tamura entworfen. Die blauen Uniformen, die auch der Protagonist in Perfect Days trägt, stammen vom japanischen Modedesigner Nigō.
Seit unserem letzten Beitrag über das Projekt sind zahlreiche neue Standorte hinzugekommen. Die sechste Toilette stammt vom Pritzker-Preisträger Tadao Ando, der sich für einen Rundbau mit überstehendem Dach entschied. „Ich wollte, dass diese kleine Architektur die Grenzen einer öffentlichen Toilette überschreitet und zu einem ‚Ort’ in der Stadtlandschaft wird, der einen immensen öffentlichen Wert darstellt“, sagt der 82-Jährige. Die Besucher*innen bewegen sich entlang einer zylindrischen Wand mit vertikalen Lamellen, die Licht und Wind genauso passieren lassen wie Blicke hinaus in den Jingu-Dori-Park.
Zeitgemäße Blockhütte
Statt einen geschlossenen Block zu errichten, teilte Kengo Kuma seine Anlage im Shoto-Park in fünf Hütten auf. Diese sind außen mit Zedernholz-Brettern verkleidet, die aus der Mitte ganzer Baumstämme gesägt wurden. „Durch die Aufteilung in separate Gebäude haben wir ein ‚öffentliches Toilettendorf’ geschaffen, das offen, luftig und leicht zu durchqueren ist: ein Design, das für die Zeit nach der Pandemie angemessen ist. Bei der Gestaltung unserer Toiletten treten wir in das Zeitalter der Vielfalt ein und kehren in den Wald zurück“, so Kengo Kuma. Die Holzoberflächen lassen den Bau mit der Natur verschmelzen, zudem besitzen sie die Lizenz zur Patina.
Sanitäre Raumkapsel
Ganz anders die halbkugelförmige Toilette, die Kazoo Sato – Kreativchef der Werbeagentur TBWA\Hakuhodo – im Nanago-Dori-Park realisiert hat. Sie ist außen und innen völlig in Weiß gehalten und wirkt wie ein Raumschiff auf Zwischenlandung. Sämtliche Funktionen sind hier sprachgesteuert, um den Kontakt mit potenziell kontaminierten Oberflächen zu reduzieren. „Diese Idee gab es schon lange vor Covid-19. Aber die Pandemie hat die Akzeptanz dieses berührungslosen Nutzererlebnisses beschleunigt“, erklärt Sato. Das betont cleane Design verstärkt den Sinneswandel der stillen Örtchen.
Toyo Ito hat im Wald um den Yoyogi-Hachiman-Schrein einen Cluster aus drei zylindrischen Toilettenhäusern errichtet. Mit ihren überstehenden, gewölbten Dächern muten sie wie Pilze an, die an den Wegrändern der Umgebung in die Höhe sprießen. Die Dächer lassen die Frischluft zirkulieren und holen viel Tageslicht ins Innere. „Durch ausreichend Platz und die Ausstattung jeder Toilette mit Funktionen für ältere Menschen und Eltern, die normalerweise nur in barrierefreien Toiletten vorhanden sind, stellen wir sicher, dass die Anlage wirklich für alle zugänglich ist“, so der Pritzker-Preisträger des Jahres 2013.
Neue Gemeinschaft
Auf Interaktion mit der Umgebung setzt Sou Fujimoto. „Ich glaube, dass eine öffentliche Toilette eine städtische Wasserstelle ist, ein Brunnen in der Stadt“, erklärt der japanische Architekt. Die stillen Örtchen werden über einen Gang erschlossen, der durch eine geschwungene Wand vom Bürgersteig abgetrennt wird. Diese Wand senkt sich in der Mitte ab, sodass nicht nur Licht, Luft und Blicke passieren. Die verbreiterte Oberseite der Wand ist mit Wascharmaturen in verschiedenen Höhen ausgestattet. Auch ein Baum wächst aus der Wand heraus. „Es soll eine kleine Gemeinschaft von Menschen, von Kindern bis zu älteren Menschen, entstehen, die sich um das Gefäß versammeln, um sich die Hände zu waschen, Wasser zu trinken und sich zu unterhalten. Wir möchten eine neue Art von öffentlichem Raum vorschlagen, in dem sich Menschen rund um das Wasser versammeln und kommunizieren können“, so Fujimoto.
Unter der Autobahn
Als einziger nicht in Japan ansässiger Gestalter hat Marc Newson an dem Projekt teilgenommen. Die Urasando-Toilette liegt unterhalb einer Überführung und wird von zwei weiteren Straßen flankiert. Eine Steinmauer definiert die Sockelzone. Darüber ergebt sich ein Korpus aus Sichtbeton mit abgerundeten Ecken, der von einem kupfernen Minoko-Dach gekrönt wird. „Diese Dachform ist häufig in Schreinen, Tempeln, Teestuben sowie in ländlichen Gegenden zu finden. Sie sollte inmitten des geschäftigen, hypermodernen Ortes ein unterbewusstes Gefühl von Komfort und Ruhe auslösen“, so der Co-Designer der Apple Watch. Die Toilette darf keinen Fremdkörper bilden. „Die Patina auf dem kupfernen Pyramidendach wird das Bauwerk mit der Zeit in die Stadt integrieren, sodass es ein Teil des Gefüges von Tokio wird“, erklärt Marc Newson. Besser lässt sich der Anspruch des Tokyo Toilet Projects kaum auf den Punkt bringen.