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Orient! Express!

Reisen auf der Schiene wird mit Klasse neu belebt

Bahnfahren muss kein Ärgernis sein. Es kann zum positiven Erlebnis werden. Nach 140 Jahren erlebt der Orient Express ein doppeltes Revival: Die luxuriösen Züge machen das Transportmittel selbst zur Destination. Nostalgie wird mit einer Infusion von Gegenwart aufgefrischt. Auch der Hipness-Faktor kommt nicht zu kurz.

von Norman Kietzmann, 15.08.2022

Das Reisen entdeckt eine neue Lust an der Langsamkeit. Während dies bei der Deutschen Bahn eher unfreiwillig geschieht, ist man in Italien und Frankreich weiter. Dort feiert der Orient Express eine Wiederauflage. La Dolce Vita heißt der Zug, den das Mailänder Designbüro Dimorestudio derzeit plant und der im kommenden Jahr Fahrt aufnehmen soll. Sechs Züge werden dann nicht nur die traditionelle Route von Paris nach Istanbul aufnehmen, die erstmals 1883 befahren wurde. Es sollen 14 Regionen in Italien angesteuert werden – von den Alpen bis in die südlichste Spitze des Landes.

Ganze 131 Städte stehen auf dem Programm, wenngleich auch hier gilt: Das eigentliche Ziel ist der Weg. Während sich die Waggons in bedächtigem Tempo durch die Landschaft schieben, können die Passagier*innen in kontemplative Ruhe versinken oder sich bei kulinarischen Köstlichkeiten amüsieren. Ein „Kunsthandwerk des Reisens“ nennen die Betreiber – ein Zusammenschluss der französischen Hotelgruppe Accor und des italienischen Hospitality-Unternehmens Arsenale – die luxuriöse Neubelebung der Schiene.

Grandezza auf Schienen
Der Zug wird nicht nur als Fortbewegungsmittel, sondern als rollendes Hotel verstanden. Darum wird es – genau wie in den Anfangsjahren des Orient Express – auch keine Großraum- oder Abteilwagen geben. Stattdessen reisen die Passagier*innen in zwölf Deluxe-Kabinen, 18 Suiten und einer Honour Suite, wo sie ihre Privatsphäre genießen können. Soziale Kontakte werden im Bordrestaurant oder im Lounge- und Barwagen geschlossen, der zugleich als Rezeption und Empfangsbereich dient. Maximal 62 Gäste finden an Bord eines Zuges Platz, verteilt auf elf Waggons. Günstig wird das nicht: Rund 2.000 Euro wird die Reise pro Person und Nacht kosten.

Das süße Leben
Das Interieur spielt – ganz wie der Name La Dolce Vita es vermuten lässt – mit Referenzen an die Fünfziger- und Sechzigerjahre, als Giò Ponti, Nanda Vigo, Gae Aulenti oder Osvaldo Borsani dem italienischen Design internationale Sichtbarkeit verschafften und es aus dem Windschatten der damals dominierenden Skandinavier heraus manövrierten. Doch auch die Siebzigerjahre, stets ein wichtiger Bezugspunkt für Dimorestudio-Gründer Emiliano Salci und Britt Moran, dürfen nicht fehlen. Midcentury-Moderne soll mit Grandezza verbunden werden.

Schlafsofa de luxe
Dafür gibt es reichlich Platz an Bord. Die Suiten sind neben einem Doppelbett oder zwei Einzelbetten mit einem Sofa, einem Bistrotisch sowie zwei runden Sesseln ausgestattet, um in Ruhe die Aussicht zu genießen oder in Abgeschiedenheit dinieren zu können. Die Farbpalette kombiniert warmes Orange und Terrakotta mit Violett und Burgund. Darüber legt sich der schimmernde Glanz polierter Messingoberflächen. Die Bettrückwand ist vollständig mit rauchigen Spiegeln verkleidet, sodass sich die Raumgröße optisch verdoppelt. Die kultige Deckenleuchte 2042/3 (1963) von Gino Sarfatti zieht mit ihren schwebenden Glassphären die Blicke auf sich.

In den Deluxe-Kabinen sind die Farben kühler. Hellblaue Wände treffen auf smaragdgrüne Teppiche und altrosafarbene Polsterbezüge. Auch hier kommen vollflächige Spiegel zum Einsatz. Allerdings muss der Raum physisch wandelbar sein. Vor dem Schlafengehen klappt das Bordpersonal das Sofa zu einem Doppelbett aus, während die Ottomanen nun in die Rolle eines Couchtisches oder eines Hockers schlüpfen. „Die Räume sind durchdacht gestaltet, ohne protzig zu wirken. Jedes Element sollte sich so anfühlen, als gehöre es schon immer dorthin“, sagt Britt Moran.

Schimmernder Salbei-Lack
Wohnliche Qualitäten bestimmen ebenso den Lounge- und Barwagen. Warme Beige-, Butterweiß-, Orange- und Kameltöne schaffen eine angenehme Atmosphäre. Die Wölbung der Wagendecke wird durch eingelassene Lichtleisten akzentuiert. Die wellenförmig geschwungenen Sitzbänke lassen an das Séparée eines Siebzigerjahre-Nachtclubs denken. Fransige Tischleuchten sorgen für Boudoir-Feeling. Im Speisewagen sind die Wände salbeigrün lackiert – ein farbiger Glanz, der durch Wandleuchten aus Mattglas verstärkt wird. Das diagonale Streifenmuster des Teppichbodens wird durch ebenso diagonale Lüsterbänder aufgegriffen, die die verspiegelte Decke in rautenförmige Segmente unterteilen. „Wir wollen ein unaufdringliches Gleichgewicht zwischen historisch und zeitgenössisch erzeugen. Die subtilen Details ergänzen sich gegenseitig und fließen mühelos ineinander“, erklärt Emiliano Salci.

Dinieren mit den Stars
Wer nicht warten möchte, bis der Orient Express La Dolce Vita 2023 seine Fahrt aufnimmt, kann schon heute den Venice-Simplon-Orient-Express buchen. Der Name leitet sich vom veränderten Streckenverlauf ab, als nach der Eröffnung des Simplontunnels in den Schweizer Alpen 1921 der Orient Express von Paris nicht nur über Wien, Budapest und Sofia nach Istanbul fuhr, sondern parallel über Mailand, Venedig und Zagreb. Heute wird der 450 Meter lange Zug mit 18 aufwendig renovierten Waggons vom Reiseunternehmen Belmond betrieben, das seit 2019 zum Luxuskonzern LVMH gehört.

Auch hier macht man sich bereit für eine neue Glanzzeit auf der Schiene. Im April 2022 wurde Jean Imbert als neuer Küchenchef verpflichtet, der unter anderem mit Pharrell Williams ein Restaurant in Miami betreibt und Madonna, Beyoncé, Dua Lipa und Kanye West zu seinen Stammkund*innen zählt. Im Venice-Simplon-Orient-Express hat Imbert alle kulinarischen Menüs überarbeitet und stilistische Anpassungen in den drei opulenten Art-Déco-Speisewagen L’Oriental, Etoile Du Nord und Côte d’Azur aus den Zwanzigerjahren vorgenommen. Die Botschaft ist klar: Im Zugfahren hat eine neue Ära begonnen.

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Links

Entwurf

Dimorestudio

www.dimorestudio.eu

Orient Express La Dolce Vita

www.orient-express.com

Venice-Simplon-Orient-Express

www.belmond.com

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