Philippe Malouin: Weniger Lärm
„Die meisten Bürostühle sind technisch überzüchtet.“
Philippe Malouin mag klare Dinge. Der gebürtige Kanadier absolvierte sein Studium an der Design Akademie Eindhoven sowie der École Nationale Supérieure de Création Industrielle (ENSCI) in Paris. Danach arbeitete er für Tom Dixon, bis er sich mit seinem eigenen Studio in London selbständig machte. Wir trafen Philippe Malouin in Basel und sprachen mit ihm über Archetypen, Gummistühle und parallele Welten.
Philippe Malouin, auf der Sammlermesse Design Miami Basel haben Sie mit der New Yorker Galerie Salon 94 Design eine Kollektion von ungewöhnlichen Büromöbeln vorgestellt: Industrial Office. Erklären Sie uns, was es damit auf sich hat. Ich arbeite bereits seit mehreren Jahren an Büroprojekten. Irgendwann hat mir mein Galerist vorgeschlagen, einen Teil dieser Recherche für Dinge zu nutzen, die in Serie nie produziert worden sind. Also habe ich mich dem Thema auf zwei Wegen genähert. Der eine war sehr technisch mit präzisen Zeichnungen und Lösungen. Der andere Weg bestand darin, die Produktentwicklung ad hoc anzugehen: als eine schnelle Übung, bei der das Experiment im Vordergrund steht.
Vor allem der Drehstuhl ist ungewöhnlich: eine Typologie, die in der Regel mit enormer Präzision und Perfektion entwickelt wird. Bei Ihnen wirkt das Möbel rau, unförmig und – nun ja – schnell zusammengezimmert. Das ist er auch (lacht). Die meisten Bürostühle sind technisch überzüchtet. Dieser Stuhl ist technisch unterzüchtet. Und zwar ganz bewusst. Ich wollte ihn an einem einzigen Tag bauen und bin mit meinem Team in eine Stahlfabrik nach Südengland gefahren. Dort haben wir all diese Stahlprofile geschnitten und zusammengeschweißt. Das Ergebnis erinnert mich ein wenig an die Ausstattung eines Fitnessstudios in den Siebzigerjahren. Eine Zeit, in der solche Möbel nicht von Designern, sondern von den Herstellern selbst entwickelt wurden.
Warum nur ein einziger Tag? Ich mag die Idee, Dinge einfach aus dem Machen heraus zu entwickeln. Auch wenn dieser Drehstuhl eine sehr rudimentäre Geometrie besitzt, ist er dennoch sehr ergonomisch. Es ist erstaunlich, dass solche Dinge auch in kurzer Zeit funktionieren. Spannend daran war für mich auch, dass Metall ein technisches Material ist. Es ist stabil, bewegt sich nicht und kann sehr präzise verarbeitet werden. Genau das haben wir hier umgedreht (lacht).
Sie haben auch Materialien wie Nylon oder Gummi verwendet, die im Kontext von Büromöbeln bislang ungewöhnlich sind. Können Sie mehr über diesen Transfer sagen? Gummi wird normalerweise nur dafür verwendet, bestimmten Bauteilen Flexibilität zu verleihen. Doch ich mag es, wenn ein Möbel aus nur einem Material besteht, anstatt verschiedene Rohstoffe zu kombinieren. Also habe ich einen ganzen Stuhl aus einem großen Gummiblock entworfen, bei dem die Rückenlehne senkrecht aus dem kubischen Sockel aufragt. Das Möbel sieht extrem unbequem und hart aus. Doch durch den Einsatz von Gummi wird diese Spannung gelöst und die Lehne ist flexibel. Für den Schreibtisch und das Sideboard haben wir nur Nylon verwendet: ein Kunststoff mit einer hohen Haltbarkeit, der zum Beispiel für Schneidebretter verwendet wird oder Anwendungen im Militär: überall dort, wo Elemente hart beansprucht werden.
Warum sollen die Dinge aus nur einem Material bestehen? Weil sie weniger visuelle Verschmutzung verursachen. Hölzerne Füße mit einer Metallsitzschale zu kombinieren und dann eine Polsterung und noch eine weite Ablage darauf zusetzen, mag für andere funktionieren. Ich liebe Dinge, die nur aus einem Material bestehen, weil alles andere schon laut genug ist. Ich will den Lärm reduzieren.
Auch bei den Formen setzen Sie auf Einfachheit. Was fasziniert Sie an Archetypen? Die Leute reagieren gut auf Dinge, die sie vorher gesehen haben und die sie verstehen. Bei einem Schreibtisch denken die meisten Menschen an zwei Säulen mit Schubladen, über denen eine Tischplatte liegt. Genau das habe ich aufgegriffen. Doch um zu experimentieren, habe ich Nylon verwendet. Der Tisch setzt sich verschiedenen Komponenten zusammen und zwar ohne Schrauben oder andere mechanische Verbindungen. Es basiert allein auf der Wirkung der Schwerkraft. Dieser Aspekt mag die Leute verwirren, doch zugleich erkennen sie den Archetypen, was sie wiederum beruhigt. Es ist wichtig, Archetypen herauszufordern.
Sind Archetypen zeitlos oder zeitgemäß? Meine Arbeit ist zeitgenössisch in dem Sinne, dass sie heute entsteht. Aber ich denke nicht, dass sie zeitgenössisch ist in Relation zu dem, was gerade passiert. Alles, was man draußen sieht, sind Möbel aus Sperrholz oder diese weichen Pinktöne. Das ist nichts für mich. Ich versuche, mich auf die Industrie zu konzentrieren und nicht daran zu denken, was gerade aktuell oder zeitgemäß ist.
Worin liegt die größte Herausforderung im Design? Weiterhin immer wieder neue Arbeiten zu gestalten. Das Selbstverständnis als Designer hat viel mit dem Bewusstsein zu tun, dass wir nicht noch mehr Dinge brauchen. Doch gleichzeitig müssen wir neue Dinge erzeugen. Ich denke, dass dieser Widerspruch die schwierigste Sache ist, mit der wir leben müssen.
Wie ordnen Sie an dieser Stelle limitierte Editionen ein? Ich bin ein Industriedesigner und entwerfe Dinge für die Massenproduktion. Doch ich entwerfe auch limitierte Editionen. Das sind zwei vollkommen verschiedene Welten, die jedoch auf einer ähnlichen Methode basieren. Wenn Dinge in einer sehr kleinen Auflage für einen hohen Preis entstehen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass diese Objekte irgendwann im Müll landen. Als Sammlerobjekte sind sie höher bewertet und damit viel stärker der Idee der Dauerhaftigkeit verbunden. Das finde ich sehr interessant. Auf der anderen Seite gestalte ich Dinge für die Serie, die erschwinglich und demokratisch sind. Auch diese Objekte sollen nicht im Müll landen und so lange wie möglich halten. Darum ist es wichtig, einfache, ehrliche Materialien zu verwenden, die die Fahrigkeit besitzen, lange Zeit zu überdauern.
Spielt Schönheit hierbei eine Rolle? Dinge müssen schön sein, um lange zu halten. Doch ich denke nicht, dass es ausreicht, Produkte nur gut aussehen zu lassen. Es ist wichtig, die Materialien und Formen über die Funktionalität zu bestimmen. Schönheit bedeutet für mich, so viel wie möglich von einer Form wegzunehmen. Oder wie Dieter Rams gesagt hat: „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich.“ Ich mag einfache Dinge.