Menschen

Ukrainische Perspektiven #2

Der Architekt Slava Balbek von balbek bureau im Gespräch

Vor 13 Jahren gründete der ukrainische Architekt Slava Balbek das balbek bureau in Kiew. Mit seinem Team entwirft und plant er die Interieurs von Büros, Hotels, Restaurants und Wohnungen in der Ukraine – aber auch in den USA, Mexiko oder China. Dabei legt balbek bureau den Fokus stets auf Komfort, Innovation und Funktionalität. Auch kleinere Hochbauprojekte sind Teil des Portfolios, vor allem seit Kriegsbeginn. Wir haben mit dem Gestalter über ein neues Verständnis von Heimat, seine „War-Life-Balance“ und den Kampf für Unabhängigkeit gesprochen.

von Annette Schimanski, 12.10.2022

Slava, erzähl uns ein wenig von Deinem Büro und Deiner Designphilosophie.
balbek bureau ist ein internationales Innenarchitekturbüro mit Sitz in Kiew. Seit 13 Jahren entwerfen wir Geschäfts-, Wohn- und Städtebauprojekte in Europa, China und den USA. Unser Büro wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Interior Design’s Best of Year und der Hospitality Design Award. Unabhängig davon, an welchem Projekt wir gerade arbeiten, haben wir immer die Menschen im Blick, die mit dem Raum interagieren werden. Wir glauben nicht an Design um des Designs willen – unser wichtigster Wert ist der Mensch.

Wie haben Du und Dein Team die ersten Tage des Krieges erlebt?
Wir haben schon in den Monaten vor dem Ausbruch des Krieges mit einer drohenden Gefahr gelebt. Daher hatten wir bereits grobe Pläne für den schlimmsten Fall vorbereitet. Aber, um ehrlich zu sein, ist es unmöglich, sich vollständig auf so etwas vorzubereiten. Wie Tausende von Ukrainern haben auch wir sofort überlegt, wie wir uns dem Widerstand anschließen und so hilfreich wie möglich sein können. Am 10. März, zwei Wochen nach der Invasion, begannen wir mit der Arbeit an dem Projekt RE:Ukraine. Dabei geht es um angemessene Notunterkünfte für die Vertriebenen, die von dem von Russland verursachten Krieg betroffen sind.

Habt Ihr jemals daran gedacht, selbst das Land zu verlassen?
Es war zweifelsohne eine Zeit voller schwieriger Entscheidungen und Pläne mit großer Unsicherheit. Während sich einige Mitarbeiter des Büros den Streitkräften anschlossen oder sich voll und ganz als Freiwillige engagierten, flüchtete der Großteil unseres Teams entweder in sicherere Regionen Europas oder in den Westen der Ukraine. Doch nach der Befreiung der Region Kiew kehrten die meisten von uns in ihre Heimat zurück – trotz der Sicherheitsbedenken.

Wie sicher fühlt Ihr Euch aktuell in Eurer Heimatstadt?
In der ukrainischen Hauptstadt und anderen Städten besteht die ständige Gefahr von Raketenangriffen. Ein Spruch wie „Es gibt keinen Ort, der so schön ist wie die Heimat“ ist für uns keine leere Floskel mehr, sondern eine hart erarbeitete Erkenntnis. An unseren Lieblingsplätzen in Kiew – und auch in den offiziellen Statistiken – sieht man, dass immer mehr Menschen in die Stadt zurückkehren, egal was passiert. Drei Teammitglieder sind nach wie vor an der Front – wir können es kaum erwarten, sie wieder persönlich zu sehen.

Was ist Euch bei der Gestaltung von Notunterkünften wichtig?
Die Erfahrung mit den Geflüchteten im Rahmen des RE:Ukraine-Projekts hat uns einen wertvollen Einblick aus erster Hand gegeben. Wir sehen das Ganze nicht mehr nur als Architekten, sondern auch als Menschen, die all dies durchlebt haben. Daraus versuchen wir, einen empathischeren Designansatz zu entwickeln.

Wie haben sich Eure Routinen verändert und wie gelingt es Euch, unter den neuen Umständen weiterhin die Arbeit zu bewältigen?
Da unser Büro schon kurz nach Beginn der Invasion die Arbeit wieder aufgenommen hat, hat sich inzwischen ein geregelter „Kriegs-Arbeitsalltag“ eingestellt. Die ersten Monate, in denen die meisten Projekte auf Eis gelegt wurden, waren, gelinde gesagt, turbulent. Aber schließlich haben wir eine „War-Life-Balance“ gefunden, die es uns ermöglicht, das Geschäft am Laufen zu halten und gleichzeitig gemeinnützige Architekturprojekte zu entwickeln, die der Ukraine langfristig zugute kommen werden.

Habt Ihr die Arbeit an laufenden Projekten fortsetzen beziehungsweise abschließen können?
Unsere Kunden mussten einige der lokalen Projekte wegen der erheblichen Risiken einstellen. Russland greift täglich zivile Infrastrukturen und Wohngebäude im ganzen Land an. Bei Luftangriffen gelten Sicherheitsmaßnahmen, die es erforderlich machen, dass die Bauarbeiten unterbrochen werden. Das vervielfacht die Kosten und erschwert die Projektplanung extrem. Dennoch arbeiten wir weiter.

Mit welchen Projekten befasst Ihr Euch aktuell?
Unter anderem mit einem HoReCa-Projekt (Hotel, Restaurant, Café) im Herzen Kiews. Bei der Arbeit an dem Hotel Sophia haben wir uns mit einer großen Gruppe von Spezialisten zusammengetan und an einer gründlichen Rekonstruktion des 1881 errichteten Hauses teilgenommen. Wir sind der Meinung, dass es keinen besseren Zeitpunkt für ein solches Projekt gibt, um die zeitlose Schönheit unserer Stadt zu würdigen. Zumal die 985 Jahre alte Sophienkathedrale gleich nebenan steht. Zum Portfolio unseres Büros gehören auch das MOVA-Bierlokal in Dnipro und ein Office für ein globales Unternehmen in einem revitalisierten ehemaligen Militärarsenal, das für uns nun eine sehr symbolische Komponente hat.

Wollt Ihr Euch in Zukunft auf Projekte in der Ukraine konzentrieren oder mehr international arbeiten?
Wir verstehen uns als globales Studio, das bereits lange vor dem Krieg zweigleisig gefahren ist. Also hatten wir in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn mehrere internationale Projekte in der Hinterhand. Wir arbeiten bereits in den USA und China und freuen uns nun, mit neuen Projekten in Westeuropa und Mexiko unser Portfolio weiter auszubauen. Gleichzeitig sind wir ein in Kiew ansässiges Büro und möchten, dass unsere Zukunft auch ein Teil der ukrainischen Zukunft wird. Als Bürger und als Fachleute möchten wir etwas beitragen. Wir teilen unser Wissen mit lokalen sozialen Initiativen, beschaffen Mittel für ein RE:Ukraine-Pilotprojekt in der Region Bucha und beschäftigen uns bereits mit bewährten Sanierungspraktiken für die Nachkriegszeit.

Wie könnten Projekte in der Nachkriegszeit aussehen?
Wir sehen zum Beispiel viele Möglichkeiten in der Gestaltung von Co-Working-Spaces und Büroräumen im Westen der Ukraine. Dort entstehen große technologische Zentren für umgesiedelte Unternehmen, die unsere Wirtschaft in Schwung halten, indem sie Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffen und auch eine Nachfrage nach unseren Dienstleistungen erzeugen.

Die Zukunft wirkt ungewiss, manchmal beängstigend. Welche Rolle werden Eurer Meinung nach Architekt*innen und Designer*innen in der Zukunft der Ukraine spielen?
Der Krieg wird unser Leben auf vielen Ebenen verändern und wir glauben, dass Architekten und Designer eine einzigartige Chance haben, zu einer besseren Ukraine beizutragen. Vor dem Krieg gab es eine stetige und vorhersehbare Entwicklung für unsere Städte und Räume. Jetzt wird uns dieser friedliche und natürliche Prozess mit brutaler Gewalt genommen. Deshalb kämpfen wir für das Recht auf Unabhängigkeit in jeder Form – sei es geopolitisch, privat oder eben in der Stadtplanung.


Am 24. Februar 2022 begann in der Ukraine ein Krieg, der das Leben von Millionen von Menschen schlagartig veränderte. Berufliche Projekte und Ziele wurden irrelevant, denn plötzlich standen Flucht oder Verteidigung an erster Stelle. In den folgenden Monaten haben viele Kreative ihre Arbeit jedoch wieder aufgenommen und blicken heute trotz aller Widrigkeiten mit Optimismus in eine noch ungewisse Zukunft. Wir haben in den vergangenen Wochen mit ukrainischen Designer*innen und Innenarchitekt*innen darüber gesprochen, wie ihr Arbeitsalltag in einer dauerhaft angespannten Lage aussieht. Dieses Interview gehört zu einer Reihe von Gesprächen, die wir mit ukrainischen Kreativen führen. Weitere Beiträge werden im regelmäßigen Abstand folgen.

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balbek bureau

www.balbek.com

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