Aneigenbare Arbeitswelten
Ein Gespräch mit Martin Haller von Caramel Architekten
Gibt es ein grundsätzliches Bedürfnis nach einer individuellen Aneignung von Lebenswelten? Und ist dieses Bedürfnis, das für den Wohnbereich belegt ist, auch auf den Arbeitsplatz im Büro übertragbar? Diese Fragen beschäftigen Caramel Architekten seit vielen Jahren bei ihren Bauprojekten. Die Antworten darauf haben die Planer*innen aus Wien im Dezember 2021 in einem Buch veröffentlicht.
Darin werden Verfahren für die Einbindung von Nutzer*innen vorgestellt sowie konkrete räumliche Umsetzungsszenarien, geeignete bauliche Strukturen und schließlich auch die Gestaltung einer Gebäudehülle. Alle Kapitel werden durch eine anschauliche Darstellung von Projekten, durch Pläne, Grafiken und Bilder ergänzt. Im Interview mit Martin Haller, Hauptautor des Werks, sprechen wir über die Planung zukünftiger Nutzungsszenarien, Potenziale der Mitarbeiterzufriedenheit und Ideen für das nächste Buch.
Herr Haller, an wen richtet sich das Buch?
Als mögliches Handbuch an Architekt*innen und Innenarchitekt*innen. Als Sachbuch an alle Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen.
Was ist das Wichtigste, das Sie mit ihrem Buch den Leser*innen vermitteln möchten?
Traut Euch, auch im Arbeitsumfeld Euer Bedürfnis nach individueller Gestaltung der räumlichen Umgebung zu artikulieren. Nehmt aktiv an Angeboten zu Workshops zur gemeinschaftlichen Planung Eurer Arbeitsumgebung teil oder initiiert diese. Das Buch zeigt auf, dass nur unter Einbeziehung der Nutzer*innen die Planung einer Arbeitsumgebung mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten aus allen Lebensbereichen entstehen kann, die Euren Bedürfnissen entspricht. Und achtet dann darauf, dass, wann immer Ihr in diesen neuen Raumbereichen hauptsächlich über die Arbeit sprecht oder nachdenkt, diese Zeit auch als Arbeitszeit bezahlt wird.
Wird der Aspekt der Aneignung von Räumen bei der Planung heute zu wenig berücksichtigt?
Ja. Er ist im Wohnbau und im Schulbau bereits seit Langem Planungsrealität, wird aber im Bürobau erst seit ein paar Jahren mehrheitlich berücksichtigt. Obwohl es bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts immer wieder einzelne Ansätze dazu gab.
Warum wurde die individuelle Aneignung von Räumen im Bürobereich zuvor eher vernachlässigt?
Ein Großteil der Bürobauten weist immer noch eine mehr oder weniger geschlossene Zellenstruktur aus aneinandergereihten, gleichförmigen Büros an beiden Seiten eines Mittelgangs auf. Als zusätzliche Raumsituationen gibt es meist nur eine Teeküche und Drucker- oder Archivinseln. Dies bietet kaum Möglichkeiten zu unterschiedlichen Nutzungen beziehungsweise zu unterschiedlichen Aneignungen dieser Räumlichkeiten.
Wo ist die individuelle Aneignung im Büro besonders wichtig? Und wo kann auf Standards zurückgegriffen werden?
Übergeordnet geht es darum, möglichst viele verschiedene Raumsituationen zu schaffen, die in ihrer Raumkonfiguration, in ihrer Raumbeschaffenheit und in ihrer Konstruktion und Oberfläche den Wünschen der Nutzer*innen entsprechen. Diese Vielfalt an Möglichkeiten kann dann im Sinne der geplanten Nutzung von einzelnen Personen oder Personengruppen temporär benutzt werden. Durch die Vielfalt an räumlichen Möglichkeiten wird sich aber auch bei zukünftigen Nutzungsänderungen für die meisten der kommenden Bedürfnisse eine Raumsituation aus dem vielfältigen Angebot als geeignet, also aneigenbar, herausstellen. Viele der einzelnen Module – wie etwa Mehrpersonenbüros, offene Bürozonen oder Besprechungsräume unterschiedlicher Größenordnungen – entsprechen dann für sich genommen nach wie vor Standards aus dem bisherigen Bürobau, aber sie werden angereichert mit verschieden benutzbaren Oberflächen und Möbelelementen.
Sind für die von Ihnen vorgeschlagenen Elemente große Eingriffe notwendig oder könnten in bestehenden Büros auch kleinere Veränderungen vorgenommen werden?
Die Addition von benutzbaren, aneigenbaren Oberflächen, modularen, unterschiedlich kombinierbaren Möbelelementen oder auch einfach nur verschieden einstellbaren Tisch- und Sitzmöbeln kann auch im Bestand ohne Umbau erfolgen.
Sie schreiben im Buch von der Notwendigkeit einer „mehrphasigen Mitbestimmungsmöglichkeit“ der Nutzer*innen in der Planung. Diese Prozesse sind zeitlich oft langwierig und vermutlich kostenintensiv. Ist das bei Bauherr*innen einfach durchsetzbar?
Hier haben Projektsteuerungsbüros wie zum Beispiel M.O.O.CON den Prozess von der Partizipation der Mitarbeiter*innen zum modularen Raumprogramm auf Basis ihrer Bedürfnisse in Form von mehrphasig geplanten Prozessen schon recht gut aufbereitet. Für die Arbeitgeber bedeutet dieses kleine – im Gegensatz zu den Errichtungskosten – finanzielle Investment ein großes Plus an Zufriedenheit bei den Mitarbeitenden. Eine planerische Herausforderung ist die zeitliche Komponente. Sie ist nur durch die Planung modularer Konzepte auf Basis einer dafür geeigneten statisch und haustechnisch einfachen Struktur möglich, da diese dann auch während der Planungsphase immer wieder an die Vorgaben der Partizipationsprozesse angeglichen werden kann.
Ist auch die Auseinandersetzung mit den Nutzer*innen bei der Planung aneigenbarer Umgebungen eine Herausforderung?
Die Auseinandersetzung mit den „Nutzer*innen“, also den Menschen, für die wir planen, ist der schönste Teil unserer Arbeit. Schließlich wollen – und sollen – wir ja für die Menschen bauen. Bei Caramel versuchen wir in unserer Planungstätigkeit immer, das Konzept „Bauen für und mit Menschen“ zu verfolgen. Daraus ergeben sich folgerichtig die Notwendigkeit des intensiven Austauschs mit den zukünftigen Nutzer*innen und die Gestaltung aneigenbarer Raumsituationen, da nur diese den Bedürfnissen der Menschen entsprechen.
Sie haben bereits einige Projekte mit mehrstufiger Beteiligung der Nutzer*innen begleitet. Sind die Ergebnisse im Allgemeinen ähnlich? Gleichen sich die Bedürfnisse der Menschen? Wo liegen die größten Unterschiede?
Es gibt sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede, abhängig von der Art der beruflichen Tätigkeit zukünftiger Nutzer*innen dieser Bürobereiche. Das Wesentliche ist aber immer, dass auch Planungen, die zu ähnlichen Ergebnissen kommen, von den Nutzer*innen zu Recht als von ihnen gewollt und mitentwickelt empfunden werden.
Architekt*innen und Innenarchitekt*innen neigen dazu, Räume vorzudefinieren – vom Raumprogramm bis hin zur Farbe der Vorhänge. Was sind Ihrer Meinung nach die eigentlichen Aufgaben der Gestalter*innen?
Die angesprochene Vordefinition bleibt schon in der Verantwortung der Planer*innen, aber eben nur als Ergebnis eines Prozesses, bei dem gemeinsam mit den zukünftigen Nutzer*innen deren Bedürfnisse offengelegt werden. Die Umsetzung dieser Bedürfnisse in ein Raumprogramm und Farb- und Materialkonzept ist dann die „Vor“-Definition. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass sich diese räumliche und gestalterische „Definition“ auf verschiedene Art und Weise benutzen – also aneignen – lässt, um auf zukünftig geänderte Bedürfnisse reagieren zu können. Adaptierbare Strukturen ermöglichen soziale und bauliche Nachhaltigkeit.
Schwebt Ihnen schon ein Thema für ein weiteres Buch vor?
Als Nächstes würden wir gerne unsere aktuellen Erfahrungen im Schul- und/oder Wohnbau unter ähnlichen Aspekten beleuchten. Da wir neben Großprojekten auch immer wieder individuell konzipierte Häuser planen, ist bereits ein Buchprojekt namens „Holy Home Bible“ in Arbeit.
Wir sind gespannt darauf!