Menschen

Corona als Wohntrend-Booster

Ein Gespräch mit der Zukunftsforscherin Oona Horx-Strathern

„Es geht nicht nur um neue Kissen, es geht um gesellschaftliche Veränderungen“, sagt die Trendforscherin Oona Horx-Strathern, die alljährlich den Home Report für das Zukunftsinstitut schreibt. Bereits zum zweiten Mal steht dieser im Zeichen der Pandemie. Durch die Corona-Krise haben sich Lebensumstände, Gewohnheiten und Vorstellungen vom perfekten Zuhause grundlegend geändert. Warum wir unsere Möbel jetzt lieber in der Nachbarschaft kaufen, wie man sich im Homeoffice besser konzentrieren kann und weshalb eine smarte Küche keine Glückshormone freisetzt, verrät die Wohnexpertin im Interview.

von Stella Hempel, 19.01.2022

Ist aktuell vor allem die Corona-Pandemie für Veränderungen in der Wohnraumgestaltung verantwortlich? Oder üben die schon zuvor gültigen Megatrends noch immer den stärksten Einfluss aus?
Ich würde sagen, es ist eine Kombination. Natürlich spielen die Megatrends weiterhin eine wichtige Rolle. Manche Wohntrends wurden durch die Corona-Krise beschleunigt, wie mit einem Fast-Forward-Button. Auch viele der Trends, die ich bereits im Home Report 2021 beschrieben habe und die sehr von der Pandemie geprägt waren, beispielsweise das Hoffice, werden in Zukunft noch immer relevant sein. Den Einfluss von Corona werden wir wahrscheinlich in den nächsten fünf Jahren noch spüren. Andere Wohntrends wurden durch die Pandemie eher verlangsamt oder ausgebremst. Zum Beispiel der Trend zur „Smart Kitchen“.

Im Home Report 2022 schreibst Du: „Die smarte Küche ist tot, es lebe die bewusste Küche.“ Vor Corona wurden auf den Messen Erfindungen wie per Sprachsteuerung bedienbare Backöfen oder Hologramm-Kochkurse präsentiert. Ist die digitale, vernetzte Küche jetzt wirklich schon wieder passé?
Es wird immer Menschen geben, die interessiert sind an solchen neuen Technologien, an solchen Spielzeugen oder „toys for boys“ (lacht). Schon vor zehn Jahren redeten alle über Kühlschränke, die selbstständig Lebensmittel bestellen. Ich kenne niemanden, der so etwas hat. Solche Geräte bekommen immer sehr viel Aufmerksamkeit. Aber am Ende sieht man sie wenig im Gebrauch. Aus irgendwelchen Gründen gehen die Leute lieber einkaufen. Sie möchten nicht zu einer Art „IT-Hausmeister“ werden und nur noch Geräte bedienen oder sich um Updates kümmern. Wenn man selbst etwas kocht, etwas erschafft, dann hat man ein Erfolgserlebnis – und Glückshormone werden ausgeschüttet. Das funktioniert aber nicht, wenn man alles der Technologie überlässt. Seit Beginn der Corona-Pandemie wird mehr zu Hause gekocht und es stellt sich die Frage: Was brauchen wir wirklich in unserer Küche? Nun, wir brauchen einen funktionierenden Herd, warmes Wasser… Ich glaube, die Menschen investieren jetzt eher in eine Küche, die ganz einfach ihre Familie ernährt. Und weniger in Statusküchen oder technische Spielzeuge.

Diesen neuen Küchentrend nennst Du Conscious Kitchen. Was genau ist damit gemeint? Wie sieht eine „bewusste, achtsame Küche“ aus?
Wir schenken der Küche mehr Aufmerksamkeit – und die Küche ist uns gegenüber ebenfalls aufmerksamer geworden. Die Menschen ernähren sich bewusster. Es gibt ein neues Bewusstsein für frische Lebensmittel und hochwertige, regionale Zutaten. Die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler, die jedes Jahr den Food Report für das Zukunftsinstitut schreibt, hat festgestellt, dass selbst junge Menschen jetzt mehr Zeit in der Küche verbringen, weniger Fertiggerichte kaufen und weniger Take-away-Mahlzeiten essen. Diese Food-Trends spiegeln sich in der Küchengestaltung wider, in einem neuen Bewusstsein für Materialien, Qualität und Design. Die Küche muss sich an unsere Bedürfnisse anpassen. Wir brauchen eine Küche, die funktional und praktisch ist, aber auch lebendig und haptisch.

Welche Materialien und Oberflächen eignen sich für die Conscious Kitchen?
Es zeigt sich ein Trend zu mehr Farben in der Küche. Oft kommen auch natürliche Materialien und haptische Oberflächen zum Einsatz. Holz ist dabei ganz wichtig. Außerdem wird jetzt ein bisschen mehr mit Materialien experimentiert. Ein schönes Beispiel stammt vom Hersteller Poggenpohl: Küchenoberflächen aus emailliertem Lavagestein. Das finde ich irre! Natursteinküchen sind jetzt stärker gemustert und wirken lebendig. Andererseits gibt es auch wieder mehr Interesse an weißen, sauber aussehenden Küchen, was mit der Pandemie und einem gesteigerten Hygienebewusstsein zusammenhängt. Aus demselben Grund interessieren sich die Leute nun stärker für selbstreinigende oder antibakterielle Oberflächen in der Küche, sogenannte „active surfaces“.

Werden sich durch die neue Rolle der Küche auch die Grundrisse unserer Wohnungen verändern?
Ja, die Grundrisse müssen flexibler werden, damit man die Küche zeitweise abteilen kann. Früher waren die Räume Schachteln und die Küche wurde als separates Zimmer geplant. Dann kamen die offenen Wohnküchen. Weil heutzutage mehr Menschen im Homeoffice arbeiten, das ich kurz Hoffice nenne, baut man jetzt eine gewisse Flexibilität ein: die Möglichkeit, einen Arbeitsbereich von der Küche abzutrennen. Viele Wohnungen haben keinen Extraraum, den man als Büro einrichten könnte. Wer seit dem ersten Corona-Lockdown öfter mal in der Küche arbeitet, hat sicher gemerkt, wie wichtig diese – mentale und physische – Ab­schot­tung ist. Es gibt verschiedene Lösungen wie Trennwände, Schiebewände oder Paravents, die dafür sorgen, dass man sich auf das Arbeiten konzentrieren kann.

Für einen weiteren Trend verwendest Du den Begriff FurNEARture, eine eigene englische Wortschöpfung, die „Möbel“ mit „Nähe“ verschmelzen lässt. Im Deutschen könnte man den Trend vielleicht „Mo­bi­li­NAHr“ nennen…
Eine schöne Übersetzung! Darf ich die verwenden?

Sehr gerne! Was steckt denn hinter diesem Trend?
Es geht um eine andere Art, Möbel zu bewerten und Kaufentscheidungen zu treffen. Wenn man früher Einrichtungsgegenstände gekauft hat, war es völlig egal, woher diese stammten – und sie haben oft sehr weite Wege zurückgelegt. Nun kommt man allmählich weg vom Wunsch nach möglichst billigen Produkten aus Ländern wie China. Da wir jetzt mehr Zeit zu Hause mit unseren Möbeln verbringen, beschäftigen wir uns intensiver mit ihrem Ursprung. Sie sollen nicht nur nachhaltig sein, sondern auch aus der Gegend stammen. Oder zumindest aus dem Land, in dem wir wohnen. Oder aus Europa. Der Begriff FurNEARture beinhaltet sehr viele unterschiedliche Ideen von Nähe: Es geht um lokale Materialien, lokale Designer*innen, lokale Herstellung. Man kann dabei auch an die Mitarbeitenden einer Möbelfabrik denken, die in der Nachbarschaft wohnen und daher nicht pendeln müssen.

Wer sich heute für ein neues Sofa entscheidet, berücksichtigt dabei den CO2-Fußabdruck und die möglichen Auswirkungen auf das Klima?
Beim CO2-Fußabdruck denkt man erst einmal an Flugreisen, Autofahrten und so weiter. Aber auch in anderen Bereichen und Branchen spielen die Wege, die Ressourcen zurücklegen, eine immer wichtigere Rolle. Es gibt heutzutage viel mehr Informationen darüber, mehr Transparenz. Die Wertschöpfungsketten lassen sich besser kontrollieren. Und deshalb können wir auch andere Entscheidungen treffen. Diese Informationen und Möglichkeiten hatten wir früher nicht. Hinzu kommt ein Ge­ne­ra­ti­ons­wech­sel: Die jungen Leute stellen vieles infrage.

Hat FurNEARture neben der Nachhaltigkeit noch andere Vorteile?
Bei Möbeln aus der Ferne – also FARniture – gibt es im Moment oft Lieferschwierigkeiten. Das hängt zum Teil mit der Corona-Krise zusammen. Durch Kriege in anderen Ländern können ebenfalls Lieferketten unterbrochen werden. Und auch als das Schiff im Suezkanal stecken blieb, konnte plötzlich niemand mehr Möbel aus Asien bekommen. Wenn man innerhalb des eigenen Landes oder der eigenen Region Möbel kauft, hat man diese Probleme nicht. Hersteller können viel schneller agieren, wenn sie auf lokale Materialien und Produktion setzen. Außerdem spielen bei FurNEARture Qualität und Handwerkskunst eine wichtige Rolle. Diese Möbel können mit Langlebigkeit punkten.

Modulare Möbel gehören ebenfalls zu den Wohntrends im Home Report 2022. Schon vor der Pandemie wurde Modularität immer wichtiger. Warum brauchen wir in der Corona-Ära noch mehr davon?
Der Trend zur Modularität wurde nun noch einmal beschleunigt, weil man mehr Flexibilität und auch Multifunktionalität benötigt, wenn man im Homeoffice arbeiten möchte. Bei diesem Work-Life-Blending verändert sich der Wohnraum je nach Tageszeit. Modulare Möbel lassen sich schnell umstellen und umfunktionieren. Sie bieten uns die Freiheit, unsere Einrichtung verschiedenen Umgebungen oder Bedürfnissen anzupassen. Oft haben modulare Möbel etwas Spielerisches und sie bringen Abwechslung in den Alltag, der durch Corona eintöniger geworden ist. Auch in Bürogebäuden werden seit Beginn der Pandemie verstärkt die Vorteile von modularen Möbeln genutzt. Sie sind sehr praktisch, wenn es plötzlich heißt: Jetzt dürfen nur noch fünf Leute in einem Raum sitzen. Oder: Man soll nun allein an einem Tisch arbeiten. Dann müssen Sitzgruppen so gebaut werden, dass man sie schnell und leicht wieder auseinandernehmen oder neu zusammenstellen kann.

Wird die Pandemie unser Zuhause dauerhaft verändern? Oder kehren wir „nach Corona“ einfach zu gewohnten Einrichtungskonzepten zurück?
Ich glaube, wir nehmen die guten Sachen mit. Zum Beispiel das neue Bewusstsein für Nachhaltigkeit – und für unsere Küchen. Man versucht, auch an die positiven Dinge zu denken, sich zu überlegen: Was habe ich gelernt? Wie habe ich mein Leben geändert? Viele hatten mehr Zeit, Neues auszuprobieren in der Wohnung. Wir werden diejenigen Trends weiter mitnehmen, die sich gut anfühlen und unsere Lebensqualität verbessern.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Oona Horx-Strathern

strathern.eu

Mehr Menschen

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

Interior- und Designstudios aus Berlin – Teil 2

„Man muss vor der KI nicht zu viel Respekt haben“

Technologie-Insider Timm Wilks im Interview

Technologie-Insider Timm Wilks im Interview

New Kids on the Block

Interior- und Designstudios aus Berlin

Interior- und Designstudios aus Berlin

In Räumen denken

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

Vorschau auf die Boden- und Teppichmesse Domotex 2024

KI als Mitbewerberin

Interview mit Rafael Lalive von der Universität Lausanne

Interview mit Rafael Lalive von der Universität Lausanne

Echos aus der KI-Welt

Architekt Wolfram Putz von Graft über Künstliche Intelligenz

Architekt Wolfram Putz von Graft über Künstliche Intelligenz

„Ich betrete gerne Neuland“

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

Ein Gespräch über Akustik mit der Architektin Marie Aigner

Wie es Euch gefällt

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

FSB-Co-Chef Jürgen Hess über den neuen Mut zur Farbe

Mehr Raum für Kreativität

Visualisierungsexpertin Andrea Nienaber über die Vorteile der 3D-Planung

Visualisierungsexpertin Andrea Nienaber über die Vorteile der 3D-Planung

Die Kreativität ins Rollen bringen

osko+deichmann über flexible Möbel für New-Work-Büros

osko+deichmann über flexible Möbel für New-Work-Büros

„Alles entspringt aus dem Ort“

Studio Wok aus Mailand im Interview

Studio Wok aus Mailand im Interview

Nachhaltig bauen heißt flexibel denken

Architekt Andreas Gerhardt über nachhaltige Gebäude und Interiors

Architekt Andreas Gerhardt über nachhaltige Gebäude und Interiors

Ukrainische Perspektiven #3

Interview mit Interiordesigner Oleksandr Maruzhenko von Men Bureau

Interview mit Interiordesigner Oleksandr Maruzhenko von Men Bureau

„Wir müssen Verantwortung übernehmen“

Lars Engelke, COO von Object Carpet, über Wertstoffkreisläufe bei Bodenbelägen

Lars Engelke, COO von Object Carpet, über Wertstoffkreisläufe bei Bodenbelägen

Langlebig, aber nicht langweilig

Das Designstudio Big-Game im Gespräch

Das Designstudio Big-Game im Gespräch

Nähe, Frische und Substanz

Leo Lübke über Strategien der Nachhaltigkeit bei COR

Leo Lübke über Strategien der Nachhaltigkeit bei COR

Zukunftsweisende Ergonomie

Interview mit Kim Colin von Industrial Facility

Interview mit Kim Colin von Industrial Facility

Ukrainische Perspektiven #2

Der Architekt Slava Balbek von balbek bureau im Gespräch

Der Architekt Slava Balbek von balbek bureau im Gespräch

Authentische Raumcollagen

Ein Gespräch mit dem Modiste-Gründer Marick Baars

Ein Gespräch mit dem Modiste-Gründer Marick Baars

Kunst wird Architektur

Pavillonbau von Thomas Demand im dänischen Ebeltoft

Pavillonbau von Thomas Demand im dänischen Ebeltoft

Textile Reise nach Persien

Hadi Teherani und Camilla Fischbacher über die Kollektion Contemporary Persia

Hadi Teherani und Camilla Fischbacher über die Kollektion Contemporary Persia

„Im Design fehlen die weiblichen Vorbilder“

Ein Gespräch mit Simone Lüling und Joa Herrenknecht von Matter of Course

Ein Gespräch mit Simone Lüling und Joa Herrenknecht von Matter of Course

Frischer Wind bei USM

Katharina Amann über ihre neue Rolle beim Schweizer Möbelhersteller

Katharina Amann über ihre neue Rolle beim Schweizer Möbelhersteller

Die Couch-Versteher

Dario Schröder über die Erfolgsstory von Noah Living

Dario Schröder über die Erfolgsstory von Noah Living

Braucht man wirklich einen neuen Teppich?

Die Innenarchitektin Monika Lepel im Gespräch

Die Innenarchitektin Monika Lepel im Gespräch

Startpaket für nachhaltige Innenarchitektur

Ein Gespräch mit BDIA-Präsidentin Pia A. Döll

Ein Gespräch mit BDIA-Präsidentin Pia A. Döll

Aneigenbare Arbeitswelten

Ein Gespräch mit Martin Haller von Caramel Architekten

Ein Gespräch mit Martin Haller von Caramel Architekten

Neues Leben für alte Möbel

Über die gelebte Kreislaufwirtschaft bei Girsberger

Über die gelebte Kreislaufwirtschaft bei Girsberger

Sinnhaftigkeit durch Nachhaltigkeit

Steffen Kehrle über seine neue Kollektion für Brunner

Steffen Kehrle über seine neue Kollektion für Brunner

Material als Leitfaden

Nachruf auf die Designerin Pauline Deltour (1983-2021)

Nachruf auf die Designerin Pauline Deltour (1983-2021)