Zukunftsweisende Ergonomie
Interview mit Kim Colin von Industrial Facility
Partner: Thonet
Nach einer Sneakpreview in Mailand stellen Kim Colin und Sam Hecht mit ihrem Studio Industrial Facility den Formholzstuhl S 220 für Thonet auf der Orgatec der Öffentlichkeit vor. Vor dem Launch sprachen wir mit Kim Colin über die Herausforderungen im Gestaltungsprozess, den Umgang mit Formholz und Thonets Design-DNA.
Mit Formholz verbindet Thonet eine lange Geschichte. Bereits 1876 entdeckte Franz Thonet, Sohn des Firmengründers Michael Thonet, das Material auf einer Messe in Philadelphia. Ein Jahr später stellte er seinen ersten Stuhl aus dem kreuzweise verleimten Echtholzfurnier her. Seitdem begleitet das Material die Firmengeschichte des Traditionsunternehmens – und auch dessen neuester Stuhl knüpft an diese Art der Herstellung an. Mit seiner ergonomischen Formholzsitzschale, dem leichten Stahlrohrgestell und den auf Wunsch erhältlichen Bugholzarmlehnen greift der neue, stapelbare S 220 das etablierte Formenrepertoire von Thonet auf und interpretiert es neu. Im Interview spricht Kim Colin über den Entwicklungsprozess, die Besonderheiten und die möglichen Einsatzbereiche des Stuhls.
Zusammen mit Sam Hecht haben Sie das Studio Industrial Facility 2002 in London gegründet. Wie arbeiten Sie zusammen?
Wir sind sehr unterschiedlich. Er ist ein ausgebildeter Industriedesigner, ich bin Architektin. Er stammt aus Großbritannien, ich aus den USA. Er ist sehr zurückhaltend und bedacht, ich rede viel. Unsere Arbeitsweise ist geprägt durch einen sehr nahen Blick „mit der Designerbrille“ – und zugleich durch eine Makro-Perspektive aus der Architektur. Wir zoomen uns während unseres Gestaltungsprozesses permanent hinein und hinaus. Von unseren Werten her sind wir uns aber sehr ähnlich. Wie wir diese Werte manifestieren, ist wiederum sehr unterschiedlich. Die Konversation zwischen den beiden Perspektiven bekommt unseren Projekten letztlich sehr gut.
Für Thonet haben Sie den Stuhl S 220 entworfen. Wie sind Sie an den Entwurf herangegangen?
Wir wurden von Norbert Ruf, Creative Director von Thonet, sehr charmant gebeten, einen Stuhl zu gestalten, der dem unglaublichen Erbe des Unternehmens gerecht wird und zugleich etwas Neues in die Kollektion einbringt. Denn wenn Thonet etwas Neues macht, braucht es eine Existenzberechtigung. Uns traute er diese Art zu arbeiten zu. Wahrscheinlich weil er unsere Arbeit für andere Marken kannte, davon einige mit und andere ohne lange Geschichte. Wir nahmen die Verantwortung sehr ernst. Denn jedes Produkt, das wir gestalten, sollte einen Bezug haben zu der Art, wie wir künftig leben werden.
Ist es eine Herausforderung, ein neues Produkt für ein Unternehmen mit einer so langen Geschichte zu entwerfen?
Absolut. Wir haben in den Archiven gesehen, dass Thonet schon immer mit sehr erfolgreichen und einflussreichen Designern zusammengearbeitet hat. Sobald wir eine ungefähre Idee des Stuhls hatten, schauten wir besonders auf die Armlehnen des 209 und die Silhouette des 214. Thonet hat sehr grafische Entwürfe, die nahezu mit einer Linie gezeichnet werden können. Wir wollten zurückgehen zum Formholz-Erbe des Unternehmens und es mit dieser Linie zusammenbringen. So kamen wir zum S 220.
Wie würden Sie die DNA von Thonet beschreiben?
Thonet ist von jeher engagiert, wenn es um Design geht. Das Team möchte, dass das Design es dazu bringt, technisch und handwerklich neue Dinge auszuprobieren. Das war bestimmt auch schon vor 50, 70 oder gar 100 Jahren so. In der Hinsicht hat sich also nicht viel geändert, auch wenn die Produktion heute anders abläuft. Dadurch fühlte sich die Zusammenarbeit von Anfang an sehr natürlich an.
Wie spiegelt sich dieses Erbe im S 220 wider?
Wir haben eine Linie in eine Oberfläche verwandelt. Man sieht keine direkte Referenz, da der Stuhl eine eigene starke und kontemporäre Präsenz hat. Es ist nicht unser Stil, in die Vergangenheit zurückzugehen und sie einfach mit einer neuen Farbe oder einem neuen Material wiederzubeleben. Wir suchten eher in der Vergangenheit nach etwas, das uns eine zeitgemäße Art des Sitzens und Lebens mit einem Möbelstück bringt. Für uns geht es immer darum herauszufinden, was dieser Stuhl sein wird. Als Studio fragen wir: Warum braucht die Welt diesen Stuhl? Die Welt ist voll mit Stühlen. Der Grund ist in diesem Fall eine neue Art des Sitzens, eine neue Art am Tisch Platz zu nehmen. Eine neue Bequemlichkeit und Präsenz. Der Stuhl muss eine neue Persönlichkeit im Raum sein. Wir lassen uns von der Vergangenheit inspirieren, um etwas Neues zu erschaffen. Die Arbeit mit Formholz ermöglichte uns sogenannte Wasserfall-Kanten, also sehr weiche Übergänge zwischen Sitzschale und Gestell.
Wie haben Sie sich mit dem Material Formholz vertraut gemacht?
Wir arbeiten immer sehr eng mit der Produktion zusammen. Natürlich hat Thonet unglaubliche Ingenieure. Mit ihnen standen wir in einem konstanten Dialog. Wir bauten einen Prototyp, der dann vom Produktionsteam in die eigenen Abläufe übertragen wurde. Dann begann ein reger Austausch darüber, inwiefern sich alle Details übertragen lassen.
Was war die größte Herausforderung beim Entwurf des S 220?
Jetzt, wo der Stuhl fertig ist und eine solche Präsenz ausstrahlt, fällt es mir schwer, darüber nachzudenken. Aber die Armlehnen waren sicherlich so ein Detail, das viel Aufmerksamkeit brauchte, damit es seine fließende Wirkung entfalten konnte. Als Einzelteil erinnert es an das Geweih eines Tieres. Außerhalb des Zusammenhangs mit dem Stuhl wäre so ein Element niemals entstanden.
Der Stuhl wird offiziell auf der Orgatec vorgestellt. Sehen Sie den Stuhl hauptsächlich in einer Büroumgebung?
Nein, nicht ausschließlich. Es ist ein Stuhl, der sich ideal um einen Tisch einfügt – viele Arten von Tischen, ob zu Hause und am Arbeitsplatz. Die Bürowelt wird wohnlicher, bietet eine Vielfalt an Arten wie und Orten wo gearbeitet werden kann. Uns war es wichtig, dass er in zahlreichen Umgebungen funktioniert: Die möglichen Einsatzbereiche sind sehr breit gefächert – die Kollektion funktioniert gleichermaßen im privaten Wohnen und im Objektbereich.
Welche Eigenschaften machen den S 220 zu einem guten Bürostuhl?
Die Körperhaltung ist beim S 220 sehr aufrecht, zugleich ist der Stuhl sehr unterstützend und ergonomisch. Beim Anlehnen gibt er etwas nach. Das ist gewollt, denn dadurch öffnet sich die Brust und man hat mehr Raum zum Atmen. So bleibt man länger wach und aufmerksam.
In Mailand gab es bereits eine Sneakpreview des S 220. Welches Feedback haben Sie bekommen?
Wir haben Bilder auf Social Media geteilt. Viele Menschen sind tatsächlich hingegangen, um sich den Stuhl live anzusehen und sich davon zu überzeugen, dass es kein Rendering ist. Seine Sanftheit und Leichtigkeit waren wohl das, was die meisten Menschen beeindruckt hat. Auch das aufrechte Sitzgefühl hat vielen gefallen. Außerdem haben wir oft gehört, dass es eindeutig ein Thonet-Stuhl ist. Er passte zu den anderen Thonet-Stühlen in Mailand.
Teilen Sie die Auffassung, dass das Entwerfen eines Stuhls eine Königsdisziplin für Designer*innen ist?
Manche Menschen empfinden es scheinbar gar nicht als so schwierig: Sie machen einfach eine Skizze – und fertig ist der Stuhl. Wir dagegen müssen hart an einem Stuhl arbeiten. Es muss für uns einen Grund geben, den Aufwand zu betreiben und die Ressourcen zu verbrauchen. Diese ökologischen Fragen stellen wir uns als Designer. Es spricht für Thonet als Auftraggeber, dass er uns diesen Grund lieferte und dass sein Verantwortungsgefühl unserem gleicht. Die Zusammenarbeit war von Anfang an sehr organisch. Norbert Rufs Sichtweise auf die Art, wie wir leben werden, entsprach sehr der unseren.