Kunstbiennale Venedig 2015: Too Big To Fail
Über große Werke in der kleinen Stadt, Kapitalismuskritik, Kunst und Konsum.

Die Biennale in Venedig ist immer noch das wichtigste Ereignis des globalen Kunstmarkts. Auch wenn die Enge der Lagunenstadt, die aufwändige Logistik und die schiere Zahl der Ausstellungen und Beiträge eine permanente Überforderung sind: It’s Venice Time. Dieses Mal mit Rücksicht auf Verluste.
Die Kunstwelt ist groß geworden. Um nicht zu sagen, zu groß. Kaum vorstellbar, dass Peggy Guggenheim, eine der schillernden Sammlerfiguren des 20. Jahrhunderts mit Werken von Jackson Pollock, Joan Miró, Pablo Picasso und vielen weiteren, nahezu all diese Künstler persönlich kannte und aus diesem Grund (Guggenheim sammelte ausschließlich Frühwerke) nicht mehr als 50.000 Dollar für ihre umfangreiche Sammlung investieren musste. Heute hat die Peggy-Guggenheim-Collection einen unschätzbaren Wert. Dass der eigene Palazzo am Canal Grande, in dem heute ein Teil der umfangreichen Sammlung zu sehen ist, ebenfalls nur mit 60.000 Dollar zu Buche schlug, klingt fast nach einem Märchen.
Chopi Chopi und Gästelisten
Betrachtet man anlässlich der diesjährigen Venedig-Biennale die Kunstwelt von heute, erscheint einem auch hier alles schier unglaublich. Mehr denn je ist die Kunst (und auch Venedig) zu einer Ware geworden. Ein Spekulationsobjekt als Kapital, dessen Wert sich unberechenbar vermehren kann. Und irgendwie erkennt man dies auch am Publikum einer Biennale – zumindest in den eigentlich nur Presse und Fachbesuchern zugänglichen vier Preview-Tagen. Riesige Yachten liegen am Kai des Canal Grande, Hotelpreise schnellen um das Fünffache in die Höhe. Und für wenige Tage scheint es nichts Wichtigeres zu geben, als stets Gast auf der richtigen Party, der wichtigsten Eröffnung und dem erlesensten Dinner zu sein.
Die Zukunft aller Welten
Als künstlerischer Leiter ist Okwui Enwezor, der für seine fein formulierte Kritik am Status unserer Welt, auch durch seine Tätigkeit am Haus der Kunst in München, bekannt ist, ein Glücksfall für die diesjährige Schau an der Lagune. Sein Titel „All The World’s Futures“ beschreibt er selbst als Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse in unserer Welt in den vergangenen zwei Jahren. Damals hieß das von Massimiliano Gioni, dem bisher jüngsten Biennale-Kurator in der Geschichte der Ausstellung, definierte Thema „Il Palazzo Enciclopedico“ (Der enzyklopädische Palast). Eine übergroße Sammlung war das Ergebnis, kleinteilig zuweilen, frei und in weiten Teilen unbedarft. Inzwischen sind neue Kriege ausgebrochen, Flüchtlingsdramen offenbar geworden, Finanzprobleme ganzer Staaten, Krankheiten und gesellschaftliche Konflikte prägen das Weltbild. Jetzt also das große Resümee.
Das Kapital und seine Lesung
In den Werken der 136 Künstler aus 53 Ländern in den Länderpavillons der Giardini und der Hauptausstellung im Arsenale und darüber hinaus in den vielen weiteren Beiträgen in der Stadt spiegelte sich das Thema der 56. Kunstbiennale in Teilen wider. Viele der Beiträge richten den Blick in die Vergangenheit, um eine Idee von Zukunftsszenarien zu ermöglichen. So auch der serbische Beitrag mit „United Dead Nations“ von Ivan Grubanov, in dem auf die Vergänglichkeit von Staaten und Grenzen aufmerksam gemacht wird. Andere versuchen wahrhaftig, die Zukunft abzubilden, wie Hito Steyerl mit ihrem Beitrag zum deutschen Pavillon „Factory of the Sun“, bei dem eine computerspielhafte Auseinandersetzung mit dem Ideal des Digitalen und seinen Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Mensch geführt wird. Oder Heung-Soon, dessen Beitrag im koreanischen Pavillon die düstere Vision eines vollkommen entmenschlichten Lebens in sterilen, futuristischen Räumen visualisiert.
Einige andere versuchen, mit ihrem Beitrag eine Auseinandersetzung mit dem Jetzt zu schaffen, wie die intelligente Aufarbeitung der aktuellen Flüchtlingskrise in dem Beitrag von Tobias Zielony. Sein dokumentarischer Essay im deutschen Pavillon besteht aus Fotografien, die er in Berlin und Hamburg von Flüchtlingen aus Afrika gemacht hat. Zum einen sind sie Elemente einer autonomen fotografischen Bilderzählung, zum anderen Gegenstand zahlreicher ausgestellter Zeitungsartikel, die afrikanische Autoren in den Herkunftsländern der Protagonisten, im Sudan, in Kamerun und Nigeria, veröffentlicht haben. Nicht auf den ersten Blick erschließt sich dieser Perspektivwechsel und somit die Kraft dieser Arbeit. Wie bei Zielony sind Globalisierung, Kapitalismus, Kriege und Konflikte omnipräsente Themen. Ob genießbar oder nicht, bis zum Ende der Ausstellungszeit wird in der von Enwezor kuratierten Hauptausstellung „Das Kapital“ von Karl Marx vorgelesen.
Gewinner muss man suchen
Natürlich geht es auf der Biennale in Venedig immer auch um Kunst mit Eventcharakter. Denn die gesamte Biennale ist ein Event, das wie kein anderes internationale Künstler, Galeristen, Händler und Sammler zusammenbringt und den Biennalen-Marathon des Jahres startet. Ob es wirklich immer die besten und die neusten Werke sind, die hier ausgestellt werden, spielt eine untergeordnete Rolle. Wichtig ist, dabei zu sein. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit all der gezeigten Kunst wäre ohnehin eine Mammutaufgabe, die kaum zu bewältigen wäre.
Keine großen Statements
Gewinner des Goldenen Löwen für den besten Länderpavillon ist, wie im vergangenen Turnus, ein Beitrag, den viele Besucher der Preview-Tage gar nicht gesehen haben. Der Pavillon Armeniens liegt nämlich auf einer kleinen Insel, ist nur per Boot zu erreichen und somit weit abseits vom üblichen Venedig-Trubel. Eine gute Metapher dafür, was in Venedig eigentlich die wichtigste Rolle spielt: Abgrenzungen. Nirgends sonst prallen Idealismus, Materialismus und Realismus härter aufeinander. In einer Stadt, die von Grenzen geprägt ist, ist der Zugang entscheidend. Was auch für die Kunst gilt, und bei Peggy Guggenheim und ihren Künstlern nicht anders war.
Enwezor will den Besuchern keine absoluten Wahrheiten, sondern möglichst viele unterschiedliche Perspektiven auf die globalisierte Welt eröffnen: „Nach meinem Verständnis muss die Biennale versuchen, in die Intensität der Gegenwart einzutauchen, in die Intensität des Wandels und der Veränderungen“, sagt der Nigerianer auf der Pressekonferenz. „Und ich habe mich für Bescheidenheit und gegen große Statements entschieden“. Eine Antwort auf die Frage nach der Zukunft aller Welten müssen wir also selber finden. Doch eins steht am Ende fest. Dank ihrer Verdienste um die Kunst wird es die Biennale in Venedig – so lange noch Wasser in der Lagune ist – immer geben. Sie ist Too Big To Fail.
Einen Vorgeschmack auf die Exponate und Ausstellungen der 56. Kunstbiennale in Venedig, die noch bis zum 22. November 2015 läuft, sehen Sie in der Bildergalerie über diesem Text, einen eigenen Beitrag zur Architektur auf der Kunstbiennale finden Sie bei den Kollegen von Baunetz.
www.baunetz.de
FOTOGRAFIE Diverse
Diverse
La Biennale di Venezia
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