Summit #5: Der stationäre Handel der Zukunft
In Tiflis haben wir über den Handel der Zukunft diskutiert.

Die Welt ist im Wandel. Digitalisierung, Globalisierung und Urbanisierung verändern unser Leben, unseren Alltag, unser Kaufverhalten. Neue Technologien werden es uns zukünftig ermöglichen, unsere alltägliche Bedarfsdeckung gänzlich digital, automatisiert und ortsunabhängig zu erledigen. Andererseits suchen wir nach „realen Erlebnissen“ und setzen uns bewusster mit den Geschichten der Marken auseinander.
Diese Polarisierung zwischen reiner Bedarfsabdeckung (online) und dem in die Freizeitkultur integriertem Erlebniseinkauf (stationär) wird den Handel der Zukunft prägen. Die derzeit dafür notwendigen Handelsflächen werden sich weiterhin dramatisch reduzieren oder neu orientieren müssen. Wie sehen zukünftig erfolgreiche Shop-Formate aus? Welchen Spielraum haben Architekten und Planer in der immer mehr standardisierten Retail-Welt, und wie können die Beteiligten zu identitätsstiftenden Konzepten kommen? Wieviel Digitalisierung ist sinnvoll und wofür? Welchem Wandel sind dabei die Städte ausgesetzt, und kann der Architekt die Transformation mit sinnvollen Maßnahmen begleiten und lenken?
Diese und weitere Fragen haben 19 Planer, Architekten, Retailer und Industrievertreter mit großer Leidenschaft auf unserem Summit „Retail“ in Tiflis diskutiert und analysiert. Dabei herausgekommen sind vier Kernthemen, die aufzeigen, welche Konzepte heute und in Zukunft in der Retail-Welt erfolgreich sind, welchen Spielraum dabei der Architekt und Planer hat und wie er die Transformation der Städte begleiten beziehungsweise lenken kann.
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Zukünftige Shop-Formate: Digitalisierung und Offline, Globalisierung und Regionalität, Individualisierung und Wir-Kultur. Es geht nicht mehr nur um das Was, sondern um das Wie, das Woher und das Wofür. „Not the product is the experience, the experience is the product.“
Thomas Ehrenfried — BEHF Architects
Hendrik Müller — einszu33
Philip Norman Peterson — Holzer Kobler Architekturen
Christoph Stelzer — DFROST
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie schnell klassische Brick-and-Mortar-Branchen, wie Videotheken oder Reisebüros, durch digitale Anbieter ersetzt wurden. Die großen gesellschaftlichen Trends wie Globalisierung, Urbanisierung und Digitalisierung bringen aber auch immer Gegentrends mit sich. In Zeiten steigender Komplexität, konstanter Informationsüberforderung und Omnivernetztheit steigt die Sehnsucht nach einem ergänzenden, bewussteren Umgang mit unserer Zeit, unserem Körper und unseren Dingen. Unsere urmenschlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse haben sich nicht verändert.
Die digitale Transformation ermöglicht eine flexiblere, an den Kunden angepasste Positionierung des Angebots. Kassen- und Lagerflächen entfallen, da Kaufabschluss und Auslieferung zeitlich und örtlich unabhängig ablaufen können. Übrig bleibt der Showroom.
Dem Erlebnis im stationären Handel kommt dabei immer mehr die Aufgabe zu, authentische Produkterfahrungen zu schaffen und auf subtile Art und Weise über Inspiration und Faszination eine hohe Begehrlichkeit für die Produkte zu generieren. Showrooming-Formate ohne direkte Verfügbarkeit der Produkte vor Ort werden alsbald fester Bestandteil der Handelslandschaft sein. Dem stationären Handel kommt zukünftig mehr die Rolle des Erlebnisraumes denn die eines tatsächlichen Verkaufsortes zu. Der Point of Sale wird zum Point of Inspiration. Schauräume können überall integriert sein. Die gewohnten Nutzungsgrenzen zwischen Handel, Gastronomie, Arbeit, Freizeit und Kultur, Wohnen und Mobilität verschwimmen. Die Liste der Vorteile dieser Hybridorte ist lang und könnte die Antworten auf städtebauliche Fragen der Zukunft liefern.
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Herausforderungen in der standardisierten Retailwelt: Die Gestaltung von Retail-Flächen, insbesondere von Ketten und Handelshäusern, wird standardisierter. Materialien und Gestaltungsgrundlagen gelten in großem Umfang häufig schon vor dem Projekt als festgelegt. Gleichzeitig werden die Zyklen immer kürzer und Roll-outs neuer Konzepte immer straffer organisiert. Welchen Spielraum hat der Architekt und Planer in entsprechenden Projekten, und wie können die Beteiligten zu identitätsstiftenden Konzepten kommen?
Bébé Branss — Gebrüder Heinemann
Susanne Geisler — Sixt
Mark Jenewein — LOVE architecture and urbanism
Standardisierung im Retail-Bereich ist eine wichtige Voraussetzung, um Effizienz bei Kosten, Zeit und Funktionen zu gewährleisten. Der Grad der Standardisierung ist sehr stark vom zugrunde liegenden Geschäftsmodell abhängig. Dies reicht von einem konsequent umgesetzten CI (= hohe Standardisierung) bis hin zu einer Neuinterpretation und Individualisierung jedes einzelnen Shops. Die anteilige Gewichtung von Standard und Individualität beeinflusst den Spielraum des Architekten und Planers. Die Herausforderung ist, dem jeweiligen Modell das entsprechende Profil zuzuordnen. Für den Kunden steht dabei immer das Einkaufserlebnis im Vordergrund.
Die wachsende Globalisierung und zunehmende Standardisierung im internationalen Wettbewerb führen zeitgleich zu einer Zunahme der Sehnsucht nach Individualisierung und Regionalität. Auch große Brands spüren dies und reagieren darauf. Dies erhöht den gestalterischen Spielraum für den Architekten und Planer, da das Hervorheben regionaler Aspekte die Möglichkeit eröffnet, sich als „Marke“ abzugrenzen, einen Mehrwert zu generieren und damit dem Kunden das größtmögliche Einkaufserlebnis zu bieten.
Die direkte Erfahrung der Funktionalität und Qualität und das Storytelling rund um das Produkt, die Informationen und Hintergründe zu Marke und Hersteller intensivieren das Erlebnis und wirken auf die Kaufbereitschaft ein. Die Möglichkeit der Personalisierung, macht das Einkaufserlebnis einzigartiger und erhöht damit die Begehrlichkeit.
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Digitalisierung im stationären Handel: Die Funktion des Internets wandelt sich rasant vom reinen Markenauftritt hin zum primären Ort des Verkaufs. Werden Läden warenlos sein? Wird es Showrooms geben, in denen der Kunde den Kontakt mit der Ware rein virtuell hat? Mit einer Anprobe via Großbildschirm? Same-Day-Delivery der ausgesuchten Produkte mit der Drohne nach Hause? Was ist wann erfolgreich, wieviel Digitalisierung ist sinnvoll und wofür?
Christoph Stelzer — DFROST
Yvonne Klemke — Jung & Klemke
Wolfgang Hardt — Burckhardt und Partner
Digitalisierung ist dann erfolgreich, wenn sie dem Handelsformat und Profil des Händlers oder der Marke entspricht und ein Baustein innerhalb eines ganzen Konzeptes oder einer Gesamtstrategie ist. Alle digitalen Maßnahmen, egal ob vor, in oder beim Verlassen des Ladengeschäfts, sollten als Teil einer durchgängigen Customer Journey verstanden werden.
Weniger statischer Content ermöglicht eine flexiblere Kommunikation und trägt dazu bei, Inspirationen an den Kunden zu vermitteln. Digitale Kommunikation ermöglicht es, den Kunden kurzfristiger und direkter mit Kampagnen zu erreichen. Durch die Verknüpfung über verschiedene Kanäle hinweg verlängert die Einbindung von Online-Plattformen die stationäre Ladentheke und macht einen Verkaufsabschluss auch ohne direkte Warenverfügbarkeit möglich – und das über alle Handelsformate und Größen hinweg.
Zukünftig ist er nur noch als Teil eines langen Verkaufsprozesses zu verstehen. Die Bedarfsgenerierung entsteht optimaler-weise viel weiter vorne in der Customer Journey, in einem der Social- oder Multimedia-Kanäle. Auch wird das Ladengeschäft zukünftig nicht mehr zwangsweise der Ort des Verkaufsabschlusses sein, sondern versteht sich als relevanter Teil eines Handelskreislaufes. Der Kunde der Zukunft wird 360 Grad erreichbar sein und vor und nach der Erfahrung im stationären Handel mit maßgeschneiderten, hoch individuellen Angeboten angesprochen. Allein das Modell, das alle Beteiligten an dem relevanten Teil der Wertschöpfung partizipieren lässt muss noch geschaffen werden.
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Gentrifizierung im Handel, Transformation der Städte: Je nach Standort können Händler nicht davon ausgehen, dass ihre Stadt das bietet, was Stadt ausmacht oder ausmachen sollte: ein vielfältiges Angebot an Dienstleistungen, Gastronomie und Kultur. Kann dem sozioökonomischen Strukturwandel bestimmter großstädtischer Viertel überhaupt etwas entgegengesetzt werden?
Lydwina Wegener — Morese Architekten
Dieter Pfannenstiel — Ellis Williams Architects
Städte sind vielfältigen Transformationen ausgesetzt: Digitalisierung, demografische Veränderungen, ökologische Aspekte sowie Migrationsbewegungen sind nur einige Beispiele, die den Bedarf und Nutzen stören. Die Gentrifizierung von Stadtteilen schafft in der Regel keine Verbesserung der Stadtteile, sondern führt vielmehr dazu, dass bezahlbarer Wohnraum und Gewerbe für die unterschiedlichsten Nutzungskonzepte nicht mehr vorhanden sind. Das Stadtviertel wird nach außen „aufgewertet“, leidet jedoch unter einem Schwund an Vielfalt und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Die ursprüngliche Bevölkerungsstruktur und der Charakter des Stadtteils wandeln sich. Die Gentrifizierung geht einher mit einem allgemeinen Segregationsprozess. Sinnvoll wäre es, Handel und Gewerbe im Vorfeld proaktiv einzubinden. Städte und Kommunen sollten die koordinierende Rolle einnehmen und Forderungen aufstellen. Es müssen beispielsweise immer Mischstrukturen mit prozentualen Vorgaben der Verteilung aus Handel, Gewerbe und Wohnen entstehen (wie zum Beispiel gemischt genutzte Immobilien für Aldi in Berlin-Neukölln und Lichtenberg). Retailer sollten als aktive städtebauliche Entwickler frühzeitig in den Planungsprozess eingebunden werden, und Zuschüsse im Sanierungs- und Gestaltungsbereich müssen verstärkt werden.
Außenraumqualität und hochwertige Grünflächengestaltung müssen – neben einer guten Verkehrsanbindung – als Anziehungskraft eines „gesunden Stadtviertels“ mit hoher Lebens- und Wohnqualität sowie vielschichtigen Angeboten im Handel- und Gewerbebereich mehr in den Fokus rücken.
FOTOGRAFIE Klaus Füner
Klaus Füner
Dormakaba
www.dormakaba.comFlokk
www.flokk.comObject Carpet
www.object-carpet.comByok
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Die Heinze-Summits versammeln führende Architekten und Innen- architekten sowie richtungsweisende und visionäre Industriepartner zu mehrtägigen Intensiv-Workshops.
www.heinze.de/events/architektureventsMehr Stories
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