Mut zur Lücke
Der Berliner Architekt Wilfried Kühn über Schwellenräume.
Freiheit! Was für ein großes Wort. Vor allem für so etwas Alltägliches wie eine Schwelle. Doch Wilfried Kühn ist überzeugt: „Schwellenräume sind Orte der Freiheit.“ Da erlaubt sich der sonst eher zurückhaltende Architekt sogar ein klein wenig Pathos, schließlich sind Zwischenräume und räumliche Übergänge sein erklärtes Lieblingsthema. Was ihn daran interessiert? Der Schwellenraum sei unbestimmt, nicht nur privat und nicht nur öffentlich, nicht nur drinnen und nicht nur draußen. „Er lässt sich nicht abschließen, er lässt sich nicht kontrollieren. Das macht ihn frei“, sagt er bei unserem Treffen in seinem Büro in der Berliner Heidestraße.
Der 1967 geborene Wilfried Kühn führt gemeinsam mit Simona Malvezzi und seinem Bruder Johannes das Berliner Architekturbüro Kuehn Malvezzi, untergebracht in einer mit White Cubes zugestellten Industrieetage nördlich des Hauptbahnhofs. Das Büro erlangte unter anderem mit der Gestaltung von Räumen für Kunst und Ausstellungen internationale Anerkennung und widmet sich in seinen Projekten immer wieder den Schwellenräumen. Wie zum Beispiel 2002 beim Umbau der ehemaligen Binding-Brauerei zu einem Ausstellungsort für die Documenta 11 – das Projekt, das ihnen den Durchbruch brachte.
Learning from Italy
Bis heute sind die endlosen Sitzbänke vor den Ausstellungsräumen in Erinnerung – eine Aufwertung des Hofs und der Korridore, die von erschöpften Kunsttouristen dankbar angenommen wurde. „Mir war wichtig, dass in den Gängen keine Kunst hängt“, sagt Wilfried Kühn. „Leerraum schaffen. Einen Ort des Dazwischen, wo man auch innere Bilder erzeugt.“ Und schlägt einen Bogen von Nordhessen nach Italien, wo er studiert und ihn die Ausstrahlung der Architektur über die Schwelle hinaus in den Stadtraum beeindruckt hat. Beispielsweise die Bänke im Sockel der Palazzi in Florenz. „Wie kann man auf gelassene Art so etwas schaffen? Daran sollte man denken, wenn man Häuser baut.“ Kühn wird gerne grundsätzlich und redet über die Architektur als solche. Ein Mann mit Sendungsbewusstsein, der über die Grundstücksgrenzen seiner aktuellen Projekte hinausdenkt.
Aktuelles Schwellenbeispiel: die Kunstsammlung Berggruen am Charlottenburger Schloss in Berlin. Kuehn Malvezzi ertüchtigten einen benachbarten Altbau als Erweiterung des bisherigen Museums und verbanden beide durch eine Passage, durch die die Besucher hindurch müssen. Und doch ist der Gang mehr als lediglich direkte Erschließung: Die großen Fenster erlauben Ausblicke in den neu gewonnenen Garten. Die verglasten Felder der Decke holen den Himmel ins Haus. Tiefe Laibungen bieten sich als informelle Sitzgelegenheit an. Vor allem aber: Die Passage ist eine Pause von der konzentrierten Atmosphäre der Ausstellungsräume. „Wir versuchen, Übergangsräume so zu gestalten, dass man nicht das Gefühl hat, man ist schon innen“, erläutert Kühn. „Innenräume können für mich etwas Bedrückendes haben, wenn sie privat sind oder funktional stark gebunden.“ Die Passage dagegen bietet: Freiraum. Weil sie keine bestimmte Nutzung vorschreibt. Weil sie den Lauf der Dinge verzögert. Den Druck herausnimmt.
Venezianische Verfeinerungen
Anderes Beispiel: Kuehn Malvezzis Installation für die Architekturbiennale in Venedig im vergangenen Jahr, Titel: Komuna Fundamento. Wilfried Kühn wundert sich bis heute, dass nur wenige Architekten dem Auftrag des Leiters David Chipperfield gefolgt waren, Räume zu entwerfen. Und stattdessen Werkdokumentationen zeigten. „Dabei kann Architektur das doch: Eins-zu-eins-Raumerlebnisse schaffen.“ Sein Unverständnis über die Kollegen artikuliert er reserviert, so wie er überhaupt wenig emotional, ja kühl wirkt. Ein verfeinerter Typ, kein Kraftkerl. Die Architektenuniform aus dunklem, einreihigem Anzug und weißem Hemd tut ihr Übriges. In der Sache aber ist Kühn engagiert, kann sich begeistern: „Schinkels Altes Museum ist ein genialer Schwellenraum“. In Venedig jedenfalls haben es sich Kuehn Malvezzi nicht nehmen lassen, die Möglichkeiten der Architektur zur Raumbildung auszuspielen: Mit ihrer Re-Inszenierung der Eingangssituation des zentralen Giardini-Pavillons in Form einer zweiteiligen Installation haben sie den üblichen Weg der Besucher kaum merklich manipuliert.
Architektur mit Hausgöttin
Direkt vor den Eingang legten Kuehn Malvezzi einen flachen Riegel aus grauem Backstein. Ein unauffälliges Objekt, das als Sitzgelegenheit funktionierte, aber zugleich den direkten Zugang in den Pavillon verstellte, so dass die Besucher einen kleinen Umweg nehmen mussten. Um sich dann im Inneren in einer labyrinthisch wirkenden Rauminstallation aus demselben Backstein wiederzufinden, die sie dank ihres Z-förmigen Grundrisses wiederum zu einem Umweg nötigte. „Man wird verzögert, es bleibt Zeit für eine eigene Erfahrung, für einen Raumeindruck“, sagt Kühn. Und natürlich für einen Blick auf die Kunst, etwa von der deutschen Fotografin Candida Höfer. Höfer ist die Hausgöttin der ohnehin sehr kunstaffinen Architekten – während des Gesprächs im strahlend weißen Besprechungsraum sitzt Wilfried Kühn vor einem lässig an die Wand gelehnten Höfer-Großformat. Der analytische Blick der Fotografin, mit dem sie die Opulenz von historischen Innenräumen auskühlt und ins Zweidimensionale bannt – die Nähe zwischen Architekten und Künstlerin ist nachvollziehbar.
Dass Kuehn Malvezzi für ihre Arbeit viel Anerkennung erfahren, ist sicher auch Wilfried Kühns Eloquenz als Propagandist in eigener Sache zu verdanken. Unser Gespräch lenkt er von den verbindenden Qualitäten der Schwelle auf das Thema Glaube, wo es ja auch darauf ankäme, sich nicht nur abzugrenzen, sondern das Verbindende zu suchen, im Sinne geteilter Werte und Grundsätze, nicht aber im Sinne eines Verwischens ritueller Unterschiede und Grenzen. Ein vermeintlich abseitiger Gedankensprung, bis Kühn überleitet zu einem aktuellen Projekt, dem siegreichen Wettbewerbsbeitrag für ein Bet- und Lehrhaus am Berliner Petriplatz. Unter einem Dach sollen hier Moslems, Juden und Christen in jeweils eigenen Räumen Gottesdienste feiern, sich aber darüber hinaus treffen und austauschen. Ein neuartiger Gebäudetypus ohne Vorbild in Raumprogramm und Architektursprache. Kuehn Malvezzis Entwurf lässt an Martin Luthers Eine feste Burg ist unser Gott denken, steht das Haus doch dank Turm und massiven Ziegelmauern stark und stabil in der historischen Mitte der Stadt. Nur, dass es nicht den Protestantismus verteidigen, sondern drei monotheistische Religionen gemeinsam repräsentieren soll.
Die Schwelle als Einladung
Und was könnte für Kuehn Malvezzi verbindender sein als ein Schwellenraum? So liegt im Zentrum des Hauses ein runder Leerraum, gekrönt von einer Kuppel (noch so eine vereinende Bauform). Während die Gebetsräume sich in Struktur und Ausstattung an den typologischen Vorbildern der jeweiligen Religion orientieren, soll der Kuppelraum unbestimmt erscheinen. Ein Raum des Übergangs und eine Fortsetzung des Außenraums nach innen. „Er besteht aus dem gleichen Ziegel wie die Fassaden. Die Fassade stülpt sich ins Haus“, erklärt Kühn. „Dieser Raum gehört allen und niemandem.“ Deswegen sei auch niemand zu Gast an diesem Ort: der Schwellenraum als „Einladung an alle zur Versammlung“. Und da fällt auch das Wort Freiheit wieder, und kurz blitzt wieder Pathos auf in dem vom Nordlicht gleichmäßig ausgeleuchteten Besprechungsraum.
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Kuehn Malvezzi
www.kuehnmalvezzi.comBet- und Lehrhaus, Berlin
bet-lehrhaus-berlin.deMehr vom Special
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